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Die Verstädterung nimmt zu. Gleichzeitig ziehen die Menschen vermehrt aufs Land – nicht erst seit der Pandemie. Inwiefern passt das zusammen?
Stimmt. Es ist allerdings nur ein scheinbarer Gegensatz, denn die Menschen ziehen nicht in die Pampas, sondern siedeln sich in einem Umkreis von bis zu 100 km rund um die großen Metropolregionen an. Diese natürliche Abwanderung hat vor gut fünf Jahren angefangen und wurde durch die Pandemie verstärkt. Nun haben wir einerseits eine Zunahme der Verstädterung, andererseits aber eben auch immer größer werdende Ballungsräume rund um die Städte.

Das Home Office wird also bleiben. Immerhin lebt man auf dem „Land rund um die Stadt“ ja nicht abgeschottet, sondern arbeitet von zuhause aus.
Genau. Doch es ist nicht mehr so wie rund um die Jahrtausendwende, als man wegen des aufkommenden ersten Internethypes dachte, dass man überall arbeiten kann – also auch im hintersten Wald oder am Strand. Fakt ist: Ein Kreativer allein verhungert im Waldviertel. Diejenigen, die jetzt aufs Land ziehen, wollen und brauchen soziale Interaktion und Vernetzung. Entsprechend wichtig ist es, dass die Kommunen das verstehen. In Brandenburg wird das beispielsweise hervorragend umgesetzt. Da werden die Bürgermeister der umliegenden Regionen in den digitalen Berliner Szenen aktiv vorstellig, erklären den Menschen, dass sie in ihren Gemeinden kreative Entwicklungsstätten vorfinden, wo sie sich mit anderen Menschen austauschen können – beruflich wie privat, es lassen sich ja auch immer mehr Familien abseits der Stadt nieder. Die Lebensqualität ist auf dem Land besser, die Preise sind niedriger. Letzteres ist generell ein Thema, denn die Kosten für Wohnen, Leben und Arbeiten steigen überall rasant an. Gut, dass bei den Betrieben ein Umdenken stattfindet und es unterschiedliche Arbeitsmodelle gibt, die Home Office, Satellitbüros usw. ermöglichen.

Wird das Land dadurch zur städtischen Region?
Eine gute Frage, schließlich werden durch die Menschen auch Lebensstile „exportiert“. Der Transfer funktioniert allerdings in beide Richtungen. Urbane und ländliche Lebensstile werden sich künftig also vermehrt vermischen: Die Stadt wird grüner, das Land kreativer. Eine interessante Osmose.

Vernetzung Stadt Land (© Toa Heftiba)

Klingt wirklich spannend. Inwiefern aber können die Bürger mitbestimmen, wie sich das Leben dort, wo sie leben, entwickelt – egal ob in der Stadt oder auf dem Land?
Es zeigt sich ein deutlicher Schub an partizipativen Kollaborationen und Formaten, in welchem Gefüge auch immer – sei es im beruflichen oder privaten Umfeld. Selbst bei den Kommunen findet hier ein Umdenken statt. Ein tolles Beispiel ist Barcelona, wo eine sehr starke partizipative Kultur gepflegt wird. Bei rund zwei Drittel aller Entscheidungen werden die Bürger aktiv einbezogen. Natürlich werden Pläne, Ideen usw. vorab von den Entscheidungsträgern entwickelt, dann aber in Bürgerforen hineingespielt, dort diskutiert und mittels Feedback-Schleifen wieder an die Kommunen zurückgeleitet.

Wow. Das wusste ich nicht. Und die Menschen nehmen an diesen partizipativen Prozessen tatsächlich teil? Oder anders gefragt: Ist den Menschen klar, dass sie auch Verantwortung übernehmen müssen – gerade im Hinblick auf das Gemeinwohl?
In Barcelona wird das sehr gut angenommen. In Skandinavien ist es ohnehin selbstverständlich, dass das soziale Gefüge und damit das Verantwortungsgefühl über die eigene Familie hinausgeht. Je weiter südlich man schaut, umso mehr steht die Familie im Mittelpunkt. Der Staat hingegen ist schlecht. Er nimmt mir etwas weg. Daher ist es auch legitim, ihn zu hintergehen.

Und wir liegen irgendwo dazwischen.
Ja, wobei sich eine gewisse „Skandinavisierung“ hinsichtlich der Verantwortung für das Gemeinwohl abzeichnet. Allerdings gilt nach wie vor: Je direkter das eigene Leben betroffen ist, umso größer das Engagement. Mein Dorf, meine Stadt, meine Region sind mir näher als der Staat. Wir sind oft viel zu weit weg von den anderen. Daher ist es entscheidend, dass zunehmen Interaktion stattfinden kann. Wir sind soziale Wesen, leben in Netzwerken, bei denen Knotenpunkte festgelegt werden müssen.

Dass sich das eigene Tun auf das Leben des anderen auswirkt, wurde in der Pandemie bestätigt. In dem Zusammenhang sprichst Du davon, dass Nähe und Distanz stetig neu vermessen werden und es kein Wunder sei, dass sogenannte Mikro-Formaten einen Boom erleben. Wie ist das gemeint?
Eine digitale Gesellschaft zeichnet sich durch dezentrales Leben aus. Zugleich brauchen wir Interaktion und Vernetzung, die unter anderem eben bei bzw. durch Micro Hubs stattfinden. Das können virtuelle neuronale Netzwerke sein genauso wie Mikro-Abenteuer, die man mit Freunden oder Familie erlebt. Für Firmen bedeutet das beispielsweise, dass sich alteingesessene Strukturen auflösen dürfen und die interne Organisation gezielter agiert. Im Übrigen ist erwiesen, dass der Mensch nur mit einer begrenzten Anzahl von Menschen soziale Beziehungen unterhalten kann – im Schnitt sind das 150 Personen, die sogenannte „Dunbar-Zahl“.

Vernetzung Hubs (© Alesia Kazantceva)

Sinnvolle Vernetzung bedeutet also lieber weniger, dafür aber wertvolle Kontakte.
Korrekt. Und viele international tätige Unternehmen orientieren sich bereits an der Dunbar-Zahl. Doch in welchem Bereich auch immer: Intelligente Vernetzung wird künftig entscheidend sein, weniger der Ort selbst. Dazu braucht es allerdings ein neues Mind-Set.

Gutes Stichwort. In Städten findet das Leben ja vermehrt im öffentlichen Raum statt. Nimmt nun die Verstädterung zu, ist in der Hinsicht wohl auch ein breites Umdenken nötig.
Jein, denn Leben im öffentlichen Raum hängt nur zum Teil mit der Verstädterung zusammen. Genauso spielt etwa die zunehmende Digitalisierung eine Rolle: Je digitaler die Welt, desto wichtiger werden Begegnungsorte, wo Vernetzung möglich ist, konsumfreie Zonen, Knotenpunkte – Hubs eben. Dort können Reflexion, Irritation und Provokation stattfinden, sodass die Menschen ihre Perspektiven erweitern und aus ihrer Bubble rauskommen können. Wichtige Hubs der Zukunft sind meiner Meinung nach übrigens Bibliotheken. Im städtischen Raum sind die Strukturen schon gut vorhanden. Auf dem Land ist das noch nicht der Fall, weil bislang kein Bedarf war. Es gab und gibt zwar das Gasthaus oder das Vereinsleben. Mit der „Landflucht“ wird es jedoch zu Veränderungen kommen. Unter anderem wird die Kombination von Wohn-, Arbeits- und Lebensraum genauso wichtig wie in der Stadt. Dafür braucht es aber eine entsprechende Infrastruktur und dafür wiederum weitsichtige Bürgermeister, die das vorantreiben. Die Attraktivität einer Region hängt sehr vom politischen Willen ab. Wobei auch die Bewohner einiges selbst initiieren und bewirken können.

Womit wir wieder bei der Verantwortung wären. Was braucht es, damit die Menschen in der Hinsicht ins Tun kommen?
Sie müssen darüber aufgeklärt werden, warum es wichtig und sinnvoll ist, sich einzubringen. Das kann anfangs im unmittelbaren Umfeld passieren, sodass sie sehen: Es macht einen Unterschied, wenn ich mich engagiere. Große Entscheidungen werden auch in Zukunft von der Politik getroffen. Dennoch ist es wichtig, dass die Bürger aktiv teilnehmen können – wie man am Beispiel Barcelona sieht. Dazu aber sind Information und Vernetzung nötig, ein offener und vor allem wertfreier Diskurs, ineinandergreifende Prozesse und Feedbackschleifen, die es den Menschen ermöglichen, ihre Ideen und auch Bedenken mitzuteilen. Und wenn sie dann tatsächlich gehört werden, werden die Menschen immer öfter ihre Verantwortung wahrnehmen.

Vielen Dank für das Gespräch, Andreas!

 

Andreas Reiter (© Oliver Wolf)
(c) Oliver Wolf

 

Zur Person: Andreas Reiter

Der gebürtige Tiroler beschäftigt sich schon seit über drei Jahrzehnten mit der Zukunft. 1996 gründete er das ZTB Zukunftsbüro in Wien und berät seither Unternehmen, Kommunen, Destinationen und öffentliche Institutionen bei strategischen Zukunftsfragen, Positionierung und kundenzentrierter Produktentwicklung. Andreas Reiter ist außerdem Keynote-Speaker und gefragter Referent bei internationalen Kongressen und Tagungen. Als Lehrbeauftragter für Trend-Management gibt er sein Wissen überdies an der Donau-Universität Krems und am MCI in seiner Heimatstadt Innsbruck weiter. Auf seinem Blog „Future Spirit“ macht er sich Gedanken über die Zukunft und gibt Inspirationen für den Wandel.

Link: www.ztb-zukunft.com

 

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Weitere Beiträge

weiter neu denken

Zum Jahresabschluss habe ich mir in einem Feedbackgespräch mit unserer Geschäftsführung gewünscht, dass ich im kommenden Jahr wieder mehr neues lernen möchte. Meinen Horizont erweitern und neue Perspektiven gewinnen möchte. Wer die Zukunft gestalten will, der muss offen für Neues sein – Neues aufsaugen, aufnehmen, inhalieren, die Dinge neu formen. So in etwa stellte ich mir das für 2023 zumindest vor. Irgendwie lebendig, aktiv und vorwärts.
Doch während der Feiertage bin ich in den inneren Diskurs gegangen. Das Jahr 2022 war für mich – um es in einem Wort zu sagen – voll. Voll im Sinne des sprichwörtlichen Fasses, dass nicht nur droht überzulaufen, sondern dies auch tat. Und so war mir plötzlich klar, dass mein Wunsch für 2023 nicht darin besteht, dieses bereits volle Fass weiter aufzufüllen. Vielmehr wünsche ich mir für das anstehende Jahr ein halb volles Fass – wobei die Betonung auf voll liegt, denn halb leer ist keine Option für mich.

Braucht es wirklich mehr?

Ich bin davon überzeugt, dass es viel positiver Energie von uns allen bedarf, eine gute und glückliche Zukunft zu gestalten. Doch wie soll das gehen, wenn wir ständig kurz vor dem Überlaufen stehen? Brauchen wir tatsächlich immer noch mehr Neues? Müssen wir uns wirklich kontinuierlich neues Wissen aneignen? Ist es sinnvoll bzw. erstrebenswert, im Hamsterrad von mehr, mehr und nochmals mehr zu bleiben? 
Meiner Meinung nach nein. Nicht höher, weiter und schneller sollte die Prämisse sein, sondern partizipativer, sinnhafter und empathischer. Achtsamer im Umgang mit unseren Ressourcen – unseren eigenen, die unserer Mitmenschen und die der Erde. Wir stehen vor großen Herausforderungen. Doch müssen wir Neues lernen, um diese Herausforderungen zu meistern und zu bestehen.

Verlernen, um zu lernen

Ich habe meine Zweifel und frage mich, ob wir nicht lieber verlernen sollten? Ein Verlernen von Glaubenssätzen, von Paradigmen, von „das haben wir schon immer so gemacht“. Können wir durch aktives Verlernen Raum für neue Perspektiven schaffen, Bilder einer Zukunft, die frei von den Grenzen der eigenen erlernten Kultur ist? Frei von den Grenzen im Denken der Möglichkeiten?
Je mehr ich darüber nachgedacht habe (und nach wie vor nachdenke), umso einfacher erscheint es mir, Neues zu lernen, als Bestehendes und Gewohntes zu verlernen. Und wer weiß: Vielleicht bietet gerade das Verlernen bzw. der Prozess des Verlernens ungeahnte Möglichkeiten für Veränderungen, Wandel und neue Erfahrungen?
Für mich ist Lernen Gegenwart. Verlernen ist Zukunft. Und lernen zu verlernen, um dabei zu lernen, ist Zukunftsgestaltung.

Über die Autorin…

Janina Clever leitet als Industrie Designerin bei Generationdesign in Wuppertal komplexe Design- und Strategieprojekte. Die studierte Arbeits- und Organisationspsychologin setzt auf nachhaltigen Mehrwert und Nutzen, der durch agile und interdisziplinäre Austauschformate und Arbeitsmethoden entsteht. Dabei sieht sie in der Fusion von digitalen und realen Formaten für die Zukunft noch unentdeckte Potenziale. Janina Clever ist außerdem Teil des Zukunftsrates von Zukunft Neu Denken.

 

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Müssen wir lernen zu verlernen?

Lebenslanges Lernen ist in aller Munde. Janina Clever aber fragt sich: Müssen wir tatsächlich immer mehr wissen? Oder sollten wir nicht lieber lernen zu verlernen?

2.562 Menschen starben 2021 auf Deutschlands Straßen, in Österreich waren es 359. In den meisten Fällen sind diese auf nicht angepasste Fahrgeschwindigkeit, Unachtsamkeit bzw. Ablenkung und Vorrangverletzung zurückzuführen. Mit anderen Worten: Verkehrsunfälle haben meist eines gemeinsam – nämlich menschliches Fehlverhalten. Und das lässt sich ändern. Schon durch das Einhalten von Tempolimits und sonstigen Vorschriften sowie durch kontrolliertes und achtsames Fahren könnte dazu beigetragen werden, dass sich die Zahl der Verletzten und Toten im Straßenverkehr deutlich reduziert. Und nicht zuletzt könnte jeder einzelne für die eigene Sicherheit sorgen. Denn Tatsache ist: Hinter jedem Steuer stecken Menschen und Geschichten.

Crash-Kurs

In der Verkehrspolitik spielt das Thema Verkehrssicherheit europaweit eine wichtige Rolle. So wurden beispielsweise Maßnahmen festgelegt, um bereits bei der Fahrzeugherstellung besonders gefährliche Stoffe zu vermeiden und die Wiederverwendung sowie Verwertung von Fahrzeugen mit Totalschaden und deren Bauteile zu intensivieren. Ein von der Versicherung festgestellter (wirtschaftlicher) Totalschaden bedeutet also nicht automatisch, dass das Fahrzeug Schrott ist. Schließlich besteht ein Auto aus rund 10.000 Einzelteilen, die von Hersteller zu Hersteller unterschiedlich sind. Universal-Teile gibt es nicht, was ein Crash-Fahrzeug in gewisser Weise zum begehrten Ersatzteillager macht. Das am häufigsten ausgebaute Ersatzteil, bevor ein Auto verschrottet wird, ist übrigens der Katalysator, in dem sich unter anderem seltene Metalle befinden.

Eine Frage der Mobilität

Die Frage aber ist nicht nur, was passiert mit geschredderten Fahrzeugteilen – die werden sortiert und weiterverarbeitet. Sondern auch: Was passiert mit dem Menschen, der hinter dem Steuer gesessen hat – egal, ob sein Auto aufgrund eines Unfalls auf dem Schrottplatz gelandet ist oder schlichtweg, weil es nicht mehr zugelassen werden konnte? Steht das neue, noch größere, noch schnellere, noch bessere Fahrzeug bereits in der Garage? Oder setzt man auf einen kleineren Straßenflitzer, auf E-, Hybrid- oder eine andere Alternative? Oder kommt man sogar ohne Auto durchs Leben? Steigt man möglicherweise auf ein motorisiertes Zweirad um oder tritt man gar in die Pedale? Und wie schaut es mit den Öffis aus?
Um all die Fragen auf einen Punkt zu bringen: Was braucht es, damit Mobilität in Zukunft anders gedacht wird bzw. werden kann?

 

Über den Fotografen

Die Bilder wurden von Bence Szalai aufgenommen. Der Fotograf und Filmemacher möchte den Blick des Betrachters auf die Details lenken. Er sieht seine Arbeit als das Radio, den Schallplattenspieler oder den Lautsprecher, über den die Musik abgespielt bzw. gehört wird und dessen Qualität das Hörerlebnis maßgeblich beeinflusst.
www.rnbpictures.com

 

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Nur ein Kratzer: Mobilität nach dem Schrottplatz

Hinter jedem Steuer steckt eine Geschichte. Warum ein Crash-Car mehr als nur Schrott ist und wieso wir Mobilität neu denken sollten. Eine Fotostrecke von Bence Szalai.

Im Kreuzworträtsel hat das Vertrauen in die Zukunft acht, manchmal zehn Buchstaben. Im echten Leben benötigen wir dafür wesentlich mehr Buchstaben. Und immer öfter fehlen uns die Worte, wenn es darum geht, vertrauensvoll in die Welt von morgen zu schauen. Das zeigte etwa eine im Frühjahr 2022 vom SORA-Institut durchgeführte Umfrage unter rund 24.000 jungen Österreichern zwischen 16 und 25 Jahren. Diese nämlich ergab, dass es nicht gerade zum Besten steht mit dem Vertrauen in die Zukunft. Vor allem der Krieg in der Ukraine (84 %) bereitet der Generation Z Sorgen, aber auch der Klimawandel (67 %), die immer breiter werdende Schere zwischen Arm und Reich (59 %) sowie Pandemie und Wirtschaftskrise (jeweils 55 %). Dass dabei nur wenig Vertrauen in die Zukunft aufkommt, habe laut Umfrage insbesondere damit zu tun, dass wir bei den großen Zukunftsthemen – von der zunehmenden ökonomischen Ungleichheit über den Klimawandel bis hin zur Pflegeproblematik, Energiewende und Bildung – schlecht unterwegs sind. Wobei mit „wir“ eigentlich die Politik gemeint ist, denn diese handle schon seit Jahren zu kurzfristig und zu populistisch, sind 88 % der Befragten überzeugt.
Dass auch andere Generationen – ob Y, X, Babyboomer oder wie sie sonst noch so heißen – eher misstrauisch in Richtung Zukunft schielen, bedarf wohl keiner weiteren Umfragen. Doch wäre es zu kurz gedacht, den politischen Entscheidungsträgern den schwarzen Peter zuzuschieben, sich zurückzulehnen und abwartend Däumchen zu drehen. Zum einen, weil es nicht so ausschaut, als würde sich die Politik alsbald und voller Tatendrang um die anstehenden Herausforderungen bemühen. Und zum anderen ist es nicht nur Aufgabe der Politik, sich um Lösungen für die aktuellen Probleme zu bemühen. Dessen sind sich die Jungen übrigens durchaus bewusst: So sind 71 % der Meinung, dass wir alle unseren Lebensstil verändern müssen, um beispielsweise den Klimawandel zu bekämpfen.

Es liegt an uns selbst

Dass wir das Ruder selbst herumreißen, Verantwortung übernehmen und mutig (voran)gehen können, stimmt positiv – zumindest mich. Eine entscheidende Rolle spielt dabei allerdings das Vertrauen. Dieses sorgt nämlich unter anderem dafür, dass wir uns wohlfühlen und zuversichtlich sind. Was aber, wenn man sich eben hinsichtlich der Zukunft mit dem Vertrauen schwertut? Wie soll man Zuversicht schöpfen, wenn einen nur mehr Sorgen und Ängste plagen? Wie soll man sich wohlfühlen, wenn sich alles nur noch schlecht anfühlt?
Was das Wohlbefinden angeht, sollten wir wissen, dass dieses weniger mit dem zusammenhängt, was kommt, als vielmehr mit dem, was ist und was war – also mit den aktuellen Erlebnissen sowie mit unseren Erinnerungen. In seinem Weltbestseller „Thinking, Fast and Slow“ beschreibt der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann unter anderem das Konzept der zwei Selbste: So haben wir ein erlebendes Selbst, das sich andauernd mit der Frage beschäftigt: „Fühle ich mich gerade wohl oder tut es weh?“ und zugleich ein erinnerndes Selbst, dass die Frage beantwortet: „Wie war es im Großen und Ganzen?“ Kahnemann ist mittlerweile davon überzeugt, dass das eigene Wohlbefinden nicht nur damit zu tun hat, wie es uns mit dem, was wir gerade erleben, geht, sondern dass wir immer auch Urteile und Bewertungen über das bereits Erlebte einfließen lassen. Oder um es mit seinen Worten zu sagen:

„Wir müssen uns mit der Komplexität einer hybriden Sichtweise abfinden, bei der das Wohlbefinden beider Selbste berücksichtigt wird.“

Gehe ich nun davon aus, dass mein Wohlbefinden in der Zukunft sowohl davon abhängt, was ich in Zukunft erleben werde, als auch davon, was ich in der Vergangenheit erlebt habe, dann sollten wir doch alles daransetzen, heute schon positive Erinnerungen zu schaffen, sodass wir morgen eine Welt haben, in der wir uns wohlfühlen können.

Vertrauen lernen

Soweit so gut. Um das Vertrauen in die Zukunft steht es trotzdem noch nicht besser bestellt? Das mag daran liegen, dass wir in die Zukunft gar nicht vertrauen können. Nicht, weil sie sich chaotisch, alles andere als planbar und sicher präsentiert, uns im Gegenteil Rätsel aufgibt und die eine oder andere Sorgenfalte beschert. Das ist eine Tatsache, die wir akzeptieren und mit der wir leben müssen. Der Grund, warum wir der Zukunft nicht vertrauen können, ist, dass Vertrauen immer mit Menschen zu tun hat – mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen, vom engsten Familienkreis über entfernt Bekannte bis hin zur Gesellschaft generell. Sowohl das Selbst- als auch das Vertrauen gegenüber anderen ist eng mit Erfahrungswerten verbunden. So haben wir beispielsweise schon früh gelernt, ob wir auf uns selbst und unseren Fähigkeiten und/oder auf andere Menschen bauen können. Vertrauen ist folglich eine erlernte Entscheidung. Und das ist gut, denn somit liegt es erstens an uns, ob wir vertrauen oder nicht. Und zweitens können wir es wieder lernen – sofern uns das Vertrauen abhandengekommen ist.

Hoffnungsvoll ins Morgen

Wenn wir vom Vertrauen in die Zukunft sprechen, geht es also darum, den eigenen Fähigkeiten als auch anderen Menschen zu vertrauen und darauf, dass man gemeinsam den Weg meistern wird. Es gilt, (wieder) Zuversicht zu erlangen und sich beim Gedanken an die Welt von morgen wohl zu fühlen. Das lässt die Hoffnung auf eine gute Zukunft immer noch nicht wachsen, schließlich – so das allgemeine „Totschlagargument“ – weiß niemand, was kommen wird. Befasst man sich aber genauer mit dem Thema Vertrauen, schaut die Sache anders aus.
Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858-1918) beschrieb Vertrauen als einen Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen, eine „Hypothese künftigen Verhaltens“, auf die wir konkretes Handeln gründen. Wer vertraut, geht also bewusst und im guten Glauben davon aus, dass man selbst und/oder die Mitmenschen sich so oder so verhalten und dass sich in der Folge eine Sache so entwickelt, wie es versprochen wurde oder wie man es erhofft hat. Ob diese dann tatsächlich so eintritt, ist eine andere Sache und für den ersten vertrauensvollen Schritt gar nicht entscheidend. Viel wichtiger ist, dass wir Vertrauen als ein reißfestes Band begreifen, an dem wir uns auf dem Weg ins Neue, Unbekannte – oder eben in die Zukunft – anhalten und orientieren können, sogar dann, wenn Umstände (noch) unsicher erscheinen. Genauso aber sollten wir uns auch darüber im Klaren sein, dass sich Vertrauen ungeheuer schnell und durch kleinste Dinge zerstören lässt.

Was und wen bringst du mit?

Inwiefern wir anderen Menschen vertrauen (können), ist freilich so eine Sache. Doch uns selbst können oder vielmehr müssen wir auf jeden Fall vertrauen. Mit Blick in die Zukunft bedeutet das, sich seiner Fähigkeiten und Begabungen, seiner Charaktereigenschaften, seiner Werte und Haltungen bewusst zu werden. Diese sind sozusagen die Werkzeuge, die uns helfen, Situationen im Jetzt, aber auch im Morgen zu meistern und anstehende Aufgaben zu lösen.
Also: Über welche Fähigkeiten und Kompetenzen verfügst du? Was kannst du gut? Was kannst du, was viele andere nicht (so gut) können? Welche Kenntnisse und Leidenschaften treiben dich an? Worüber möchtest du immer mehr wissen? Was weckt deine Neugier, deinen Wissensdrang? Womit beschäftigst du dich intensiv – mehr als die meisten Menschen? Welche Werte vertrittst du? Welche Werte sind dir wichtig? Was gibt deinem Leben Sinn und Richtung? Welche Stärke macht dich aus, für welche Tugend stehst du, welche besondere Eigenschaft verkörperst du?
Neben all dem, was wir selbst mitbringen, kommt es auf Beziehungen, auf Gruppen und Gemeinschaften an, denen wir angehören. Womit wir wieder bei den Mitmenschen wären. Denn Tatsache ist: Gemeinsam können wir besser für unsere Interessen eintreten, uns gegenseitig motivieren und uns durch gegenseitiges Vertrauen stärken. Spätestens dann kennen wir des (Kreuzwort-)Rätsels Lösung und wissen, dass „Vertrauen in die Zukunft“ Hoffnung oder Zuversicht oder noch besser beides zusammen bedeutet.

 

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Christiane Mähr,Featured,Vertrauen

Vertrauen wir uns mal selbst – dann der Zukunft

Warum wir gar nicht in die Zukunft vertrauen können, was das mit Ängsten und Sorgen, Erinnerungen und Erlebnissen zu tun hat und warum wir es selbst in der Hand haben, mutig in die Zukunft zu gehen und dabei andere an der Hand nehmen sollten.