Plattform für verantwortungsvolle und mutige Zukunftslobbyisten

Im Kreuzworträtsel hat das Vertrauen in die Zukunft acht, manchmal zehn Buchstaben. Im echten Leben benötigen wir dafür wesentlich mehr Buchstaben. Und immer öfter fehlen uns die Worte, wenn es darum geht, vertrauensvoll in die Welt von morgen zu schauen. Das zeigte etwa eine im Frühjahr 2022 vom SORA-Institut durchgeführte Umfrage unter rund 24.000 jungen Österreichern zwischen 16 und 25 Jahren. Diese nämlich ergab, dass es nicht gerade zum Besten steht mit dem Vertrauen in die Zukunft. Vor allem der Krieg in der Ukraine (84 %) bereitet der Generation Z Sorgen, aber auch der Klimawandel (67 %), die immer breiter werdende Schere zwischen Arm und Reich (59 %) sowie Pandemie und Wirtschaftskrise (jeweils 55 %). Dass dabei nur wenig Vertrauen in die Zukunft aufkommt, habe laut Umfrage insbesondere damit zu tun, dass wir bei den großen Zukunftsthemen – von der zunehmenden ökonomischen Ungleichheit über den Klimawandel bis hin zur Pflegeproblematik, Energiewende und Bildung – schlecht unterwegs sind. Wobei mit „wir“ eigentlich die Politik gemeint ist, denn diese handle schon seit Jahren zu kurzfristig und zu populistisch, sind 88 % der Befragten überzeugt.
Dass auch andere Generationen – ob Y, X, Babyboomer oder wie sie sonst noch so heißen – eher misstrauisch in Richtung Zukunft schielen, bedarf wohl keiner weiteren Umfragen. Doch wäre es zu kurz gedacht, den politischen Entscheidungsträgern den schwarzen Peter zuzuschieben, sich zurückzulehnen und abwartend Däumchen zu drehen. Zum einen, weil es nicht so ausschaut, als würde sich die Politik alsbald und voller Tatendrang um die anstehenden Herausforderungen bemühen. Und zum anderen ist es nicht nur Aufgabe der Politik, sich um Lösungen für die aktuellen Probleme zu bemühen. Dessen sind sich die Jungen übrigens durchaus bewusst: So sind 71 % der Meinung, dass wir alle unseren Lebensstil verändern müssen, um beispielsweise den Klimawandel zu bekämpfen.

Es liegt an uns selbst

Dass wir das Ruder selbst herumreißen, Verantwortung übernehmen und mutig (voran)gehen können, stimmt positiv – zumindest mich. Eine entscheidende Rolle spielt dabei allerdings das Vertrauen. Dieses sorgt nämlich unter anderem dafür, dass wir uns wohlfühlen und zuversichtlich sind. Was aber, wenn man sich eben hinsichtlich der Zukunft mit dem Vertrauen schwertut? Wie soll man Zuversicht schöpfen, wenn einen nur mehr Sorgen und Ängste plagen? Wie soll man sich wohlfühlen, wenn sich alles nur noch schlecht anfühlt?
Was das Wohlbefinden angeht, sollten wir wissen, dass dieses weniger mit dem zusammenhängt, was kommt, als vielmehr mit dem, was ist und was war – also mit den aktuellen Erlebnissen sowie mit unseren Erinnerungen. In seinem Weltbestseller „Thinking, Fast and Slow“ beschreibt der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann unter anderem das Konzept der zwei Selbste: So haben wir ein erlebendes Selbst, das sich andauernd mit der Frage beschäftigt: „Fühle ich mich gerade wohl oder tut es weh?“ und zugleich ein erinnerndes Selbst, dass die Frage beantwortet: „Wie war es im Großen und Ganzen?“ Kahnemann ist mittlerweile davon überzeugt, dass das eigene Wohlbefinden nicht nur damit zu tun hat, wie es uns mit dem, was wir gerade erleben, geht, sondern dass wir immer auch Urteile und Bewertungen über das bereits Erlebte einfließen lassen. Oder um es mit seinen Worten zu sagen:

„Wir müssen uns mit der Komplexität einer hybriden Sichtweise abfinden, bei der das Wohlbefinden beider Selbste berücksichtigt wird.“

Gehe ich nun davon aus, dass mein Wohlbefinden in der Zukunft sowohl davon abhängt, was ich in Zukunft erleben werde, als auch davon, was ich in der Vergangenheit erlebt habe, dann sollten wir doch alles daransetzen, heute schon positive Erinnerungen zu schaffen, sodass wir morgen eine Welt haben, in der wir uns wohlfühlen können.

Vertrauen lernen

Soweit so gut. Um das Vertrauen in die Zukunft steht es trotzdem noch nicht besser bestellt? Das mag daran liegen, dass wir in die Zukunft gar nicht vertrauen können. Nicht, weil sie sich chaotisch, alles andere als planbar und sicher präsentiert, uns im Gegenteil Rätsel aufgibt und die eine oder andere Sorgenfalte beschert. Das ist eine Tatsache, die wir akzeptieren und mit der wir leben müssen. Der Grund, warum wir der Zukunft nicht vertrauen können, ist, dass Vertrauen immer mit Menschen zu tun hat – mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen, vom engsten Familienkreis über entfernt Bekannte bis hin zur Gesellschaft generell. Sowohl das Selbst- als auch das Vertrauen gegenüber anderen ist eng mit Erfahrungswerten verbunden. So haben wir beispielsweise schon früh gelernt, ob wir auf uns selbst und unseren Fähigkeiten und/oder auf andere Menschen bauen können. Vertrauen ist folglich eine erlernte Entscheidung. Und das ist gut, denn somit liegt es erstens an uns, ob wir vertrauen oder nicht. Und zweitens können wir es wieder lernen – sofern uns das Vertrauen abhandengekommen ist.

Vertrauen in andere (© Christiane Mähr)

Hoffnungsvoll ins Morgen

Wenn wir vom Vertrauen in die Zukunft sprechen, geht es also darum, den eigenen Fähigkeiten als auch anderen Menschen zu vertrauen und darauf, dass man gemeinsam den Weg meistern wird. Es gilt, (wieder) Zuversicht zu erlangen und sich beim Gedanken an die Welt von morgen wohl zu fühlen. Das lässt die Hoffnung auf eine gute Zukunft immer noch nicht wachsen, schließlich – so das allgemeine „Totschlagargument“ – weiß niemand, was kommen wird. Befasst man sich aber genauer mit dem Thema Vertrauen, schaut die Sache anders aus.
Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858-1918) beschrieb Vertrauen als einen Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen, eine „Hypothese künftigen Verhaltens“, auf die wir konkretes Handeln gründen. Wer vertraut, geht also bewusst und im guten Glauben davon aus, dass man selbst und/oder die Mitmenschen sich so oder so verhalten und dass sich in der Folge eine Sache so entwickelt, wie es versprochen wurde oder wie man es erhofft hat. Ob diese dann tatsächlich so eintritt, ist eine andere Sache und für den ersten vertrauensvollen Schritt gar nicht entscheidend. Viel wichtiger ist, dass wir Vertrauen als ein reißfestes Band begreifen, an dem wir uns auf dem Weg ins Neue, Unbekannte – oder eben in die Zukunft – anhalten und orientieren können, sogar dann, wenn Umstände (noch) unsicher erscheinen. Genauso aber sollten wir uns auch darüber im Klaren sein, dass sich Vertrauen ungeheuer schnell und durch kleinste Dinge zerstören lässt.

Was und wen bringst du mit?

Inwiefern wir anderen Menschen vertrauen (können), ist freilich so eine Sache. Doch uns selbst können oder vielmehr müssen wir auf jeden Fall vertrauen. Mit Blick in die Zukunft bedeutet das, sich seiner Fähigkeiten und Begabungen, seiner Charaktereigenschaften, seiner Werte und Haltungen bewusst zu werden. Diese sind sozusagen die Werkzeuge, die uns helfen, Situationen im Jetzt, aber auch im Morgen zu meistern und anstehende Aufgaben zu lösen.
Also: Über welche Fähigkeiten und Kompetenzen verfügst du? Was kannst du gut? Was kannst du, was viele andere nicht (so gut) können? Welche Kenntnisse und Leidenschaften treiben dich an? Worüber möchtest du immer mehr wissen? Was weckt deine Neugier, deinen Wissensdrang? Womit beschäftigst du dich intensiv – mehr als die meisten Menschen? Welche Werte vertrittst du? Welche Werte sind dir wichtig? Was gibt deinem Leben Sinn und Richtung? Welche Stärke macht dich aus, für welche Tugend stehst du, welche besondere Eigenschaft verkörperst du?
Neben all dem, was wir selbst mitbringen, kommt es auf Beziehungen, auf Gruppen und Gemeinschaften an, denen wir angehören. Womit wir wieder bei den Mitmenschen wären. Denn Tatsache ist: Gemeinsam können wir besser für unsere Interessen eintreten, uns gegenseitig motivieren und uns durch gegenseitiges Vertrauen stärken. Spätestens dann kennen wir des (Kreuzwort-)Rätsels Lösung und wissen, dass „Vertrauen in die Zukunft“ Hoffnung oder Zuversicht oder noch besser beides zusammen bedeutet.

 

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weiter neu denken

Zum Jahresabschluss habe ich mir in einem Feedbackgespräch mit unserer Geschäftsführung gewünscht, dass ich im kommenden Jahr wieder mehr neues lernen möchte. Meinen Horizont erweitern und neue Perspektiven gewinnen möchte. Wer die Zukunft gestalten will, der muss offen für Neues sein – Neues aufsaugen, aufnehmen, inhalieren, die Dinge neu formen. So in etwa stellte ich mir das für 2023 zumindest vor. Irgendwie lebendig, aktiv und vorwärts.
Doch während der Feiertage bin ich in den inneren Diskurs gegangen. Das Jahr 2022 war für mich – um es in einem Wort zu sagen – voll. Voll im Sinne des sprichwörtlichen Fasses, dass nicht nur droht überzulaufen, sondern dies auch tat. Und so war mir plötzlich klar, dass mein Wunsch für 2023 nicht darin besteht, dieses bereits volle Fass weiter aufzufüllen. Vielmehr wünsche ich mir für das anstehende Jahr ein halb volles Fass – wobei die Betonung auf voll liegt, denn halb leer ist keine Option für mich.

Braucht es wirklich mehr?

Ich bin davon überzeugt, dass es viel positiver Energie von uns allen bedarf, eine gute und glückliche Zukunft zu gestalten. Doch wie soll das gehen, wenn wir ständig kurz vor dem Überlaufen stehen? Brauchen wir tatsächlich immer noch mehr Neues? Müssen wir uns wirklich kontinuierlich neues Wissen aneignen? Ist es sinnvoll bzw. erstrebenswert, im Hamsterrad von mehr, mehr und nochmals mehr zu bleiben? 
Meiner Meinung nach nein. Nicht höher, weiter und schneller sollte die Prämisse sein, sondern partizipativer, sinnhafter und empathischer. Achtsamer im Umgang mit unseren Ressourcen – unseren eigenen, die unserer Mitmenschen und die der Erde. Wir stehen vor großen Herausforderungen. Doch müssen wir Neues lernen, um diese Herausforderungen zu meistern und zu bestehen.

Verlernen, um zu lernen

Ich habe meine Zweifel und frage mich, ob wir nicht lieber verlernen sollten? Ein Verlernen von Glaubenssätzen, von Paradigmen, von „das haben wir schon immer so gemacht“. Können wir durch aktives Verlernen Raum für neue Perspektiven schaffen, Bilder einer Zukunft, die frei von den Grenzen der eigenen erlernten Kultur ist? Frei von den Grenzen im Denken der Möglichkeiten?
Je mehr ich darüber nachgedacht habe (und nach wie vor nachdenke), umso einfacher erscheint es mir, Neues zu lernen, als Bestehendes und Gewohntes zu verlernen. Und wer weiß: Vielleicht bietet gerade das Verlernen bzw. der Prozess des Verlernens ungeahnte Möglichkeiten für Veränderungen, Wandel und neue Erfahrungen?
Für mich ist Lernen Gegenwart. Verlernen ist Zukunft. Und lernen zu verlernen, um dabei zu lernen, ist Zukunftsgestaltung.

Über die Autorin…

Janina Clever leitet als Industrie Designerin bei Generationdesign in Wuppertal komplexe Design- und Strategieprojekte. Die studierte Arbeits- und Organisationspsychologin setzt auf nachhaltigen Mehrwert und Nutzen, der durch agile und interdisziplinäre Austauschformate und Arbeitsmethoden entsteht. Dabei sieht sie in der Fusion von digitalen und realen Formaten für die Zukunft noch unentdeckte Potenziale. Janina Clever ist außerdem Teil des Zukunftsrates von Zukunft Neu Denken.

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Müssen wir lernen zu verlernen?

Lebenslanges Lernen ist in aller Munde. Janina Clever aber fragt sich: Müssen wir tatsächlich immer mehr wissen? Oder sollten wir nicht lieber lernen zu verlernen?

2.562 Menschen starben 2021 auf Deutschlands Straßen, in Österreich waren es 359. In den meisten Fällen sind diese auf nicht angepasste Fahrgeschwindigkeit, Unachtsamkeit bzw. Ablenkung und Vorrangverletzung zurückzuführen. Mit anderen Worten: Verkehrsunfälle haben meist eines gemeinsam – nämlich menschliches Fehlverhalten. Und das lässt sich ändern. Schon durch das Einhalten von Tempolimits und sonstigen Vorschriften sowie durch kontrolliertes und achtsames Fahren könnte dazu beigetragen werden, dass sich die Zahl der Verletzten und Toten im Straßenverkehr deutlich reduziert. Und nicht zuletzt könnte jeder einzelne für die eigene Sicherheit sorgen. Denn Tatsache ist: Hinter jedem Steuer stecken Menschen und Geschichten.

Crash-Kurs

In der Verkehrspolitik spielt das Thema Verkehrssicherheit europaweit eine wichtige Rolle. So wurden beispielsweise Maßnahmen festgelegt, um bereits bei der Fahrzeugherstellung besonders gefährliche Stoffe zu vermeiden und die Wiederverwendung sowie Verwertung von Fahrzeugen mit Totalschaden und deren Bauteile zu intensivieren. Ein von der Versicherung festgestellter (wirtschaftlicher) Totalschaden bedeutet also nicht automatisch, dass das Fahrzeug Schrott ist. Schließlich besteht ein Auto aus rund 10.000 Einzelteilen, die von Hersteller zu Hersteller unterschiedlich sind. Universal-Teile gibt es nicht, was ein Crash-Fahrzeug in gewisser Weise zum begehrten Ersatzteillager macht. Das am häufigsten ausgebaute Ersatzteil, bevor ein Auto verschrottet wird, ist übrigens der Katalysator, in dem sich unter anderem seltene Metalle befinden.

Eine Frage der Mobilität

Die Frage aber ist nicht nur, was passiert mit geschredderten Fahrzeugteilen – die werden sortiert und weiterverarbeitet. Sondern auch: Was passiert mit dem Menschen, der hinter dem Steuer gesessen hat – egal, ob sein Auto aufgrund eines Unfalls auf dem Schrottplatz gelandet ist oder schlichtweg, weil es nicht mehr zugelassen werden konnte? Steht das neue, noch größere, noch schnellere, noch bessere Fahrzeug bereits in der Garage? Oder setzt man auf einen kleineren Straßenflitzer, auf E-, Hybrid- oder eine andere Alternative? Oder kommt man sogar ohne Auto durchs Leben? Steigt man möglicherweise auf ein motorisiertes Zweirad um oder tritt man gar in die Pedale? Und wie schaut es mit den Öffis aus?
Um all die Fragen auf einen Punkt zu bringen: Was braucht es, damit Mobilität in Zukunft anders gedacht wird bzw. werden kann?

 

Über den Fotografen

Die Bilder wurden von Bence Szalai aufgenommen. Der Fotograf und Filmemacher möchte den Blick des Betrachters auf die Details lenken. Er sieht seine Arbeit als das Radio, den Schallplattenspieler oder den Lautsprecher, über den die Musik abgespielt bzw. gehört wird und dessen Qualität das Hörerlebnis maßgeblich beeinflusst.
www.rnbpictures.com

 

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Nur ein Kratzer: Mobilität nach dem Schrottplatz

Hinter jedem Steuer steckt eine Geschichte. Warum ein Crash-Car mehr als nur Schrott ist und wieso wir Mobilität neu denken sollten. Eine Fotostrecke von Bence Szalai.

Dein neues Buch heißt „Medizin verändern“. Sollten sich nicht auch die Menschen verändern – im Sinne von „Gesundheit neu denken“ und Eigenverantwortung übernehmen?
Ich habe ja schon vor Jahren „Den kleinen Medicus“ bewusst als Abenteuergeschichte geschrieben – in dem Verständnis, dass jeder von uns ein kleiner Medicus, eine kleine Medica ist. Und es ist mein grundsätzlicher Ansatz, dass wir Menschen als Patienten diejenigen sind, die am besten wissen, wo der Schuh drückt, was uns die Beine wegzieht, was uns Magenschmerzen bereitet, was uns Angst macht. Ärzte und Therapeuten sind Gehilfen, Medikamente, Operationen und medizinische Geräte sind Hilfsmittel. Medizin verändern bedeutet also einerseits das System zu verändern. Andererseits sind wir das eben selbst und so braucht es Selbstwahrnehmung, Selbstgestaltung und Offenheit gegenüber anderen Menschen, aber auch dem System gegenüber. Wir Menschen sind somit mittendrin in der Medizin und Teil eines Systems, das wir mitgestalten. Wir nehmen es allerdings nicht so wahr.

Und leider geben viele die Verantwortung ab, sobald sie eine Praxis, ein Krankenhaus betreten.
Ja, wir „hängen“ uns sozusagen „an der Garderobe ab“. Wir glauben sogar, dass eine Vorsorgemedizin, die Prävention, in unserer medizinischen Versorgung und den Gesundheitssystemen weltweit bereits praktiziert wird, weil es immer wieder Tenor von politischen Ankündigungen ist. Wenn man allerdings schaut, welche medizinischen Systeme vorsorgend arbeiten, muss man ganz weit zurückgehen und landet etwa bei den alten Chinesen. Dort wurde ein guter Arzt dafür bezahlt, Krankheiten zu verhindern, ein schlechter Arzt wurde nicht mehr bezahlt und entlassen. Dieses geschichtliche Wissen unserer Vorfahren tragen wir eigentlich in uns und somit auch in die Medizin hinein. Nur leider hat kaum jemand mehr dieses Verständnis. Oder wir haben es vergessen und kümmern uns immer mehr um Kosten und Einsparungen.

Heilung braucht folglich immer das Wechselspiel zwischen Arzt und Patient.
Mein Credo ist: Die Medizin der Zukunft ist eine Medizin auf Augenhöhe zwischen Arzt bzw. Therapeut und Patient. Das Zweite ist: Zuhören und verstehen, dass man ganz viel vom Patienten lernen kann. Ich habe in meiner mittlerweile über 40-jährigen Praxis so viel von meinen Patienten gelernt. Wenn ich zuhöre, erfahre ich, welche „Laus dem Patienten über die Leber gelaufen ist“, wie er sein Leben lebt, warum er traurig ist, wie sich seine Schmerzen zeigen, und wie er sich möglicherweise mit ganz anderen Methoden selbst heilt als diejenigen, die ich bisher kennengelernt habe. Jeder Mensch ist individuell, aber nur wenn ich mit ihm spreche, erfahre ich das.

Die Ärzte müssten also aus dem System ausbrechen und sich die Zeit nehmen.
Ja, wir müssen uns Wege schaffen, wie wir aus dieser Falle wieder herauskommen. Ich hatte das seinerzeit für meine Institute derart gelöst, dass ich schon vor gut 20 Jahren mit den Kassen eine Paketlösung bei der Behandlung von Rückenbeschwerden ausgehandelt habe. Darin ist immer ein langes Erstgespräch inbegriffen. Das ist nicht von heute auf morgen passiert, hat mich viel Energie gekostet, aber es hat funktioniert und funktioniert nach wie vor – auch in den aktuell bestehenden Systemen, die ja verständlicherweise alle auf Einnahmen angewiesen sind. Doch dazu braucht es halt ebenso Wertschätzung und zwar auf allen Seiten.

Um noch einmal auf die Eigenverantwortung zu kommen: Wie kann den Menschen klar gemacht werden, dass sie selbst für ihre Gesundheit verantwortlich sind? Ich glaube nämlich, dass sich viele dagegen wehren und doch lieber dem „Gott in Weiß“ die Heilung überlassen.
Auf zwei Ebenen. Einerseits muss die medizinische Ausbildung erweitert werden – um die Aspekte der Psychosomatik, der seelischen Gesundheit, aber auch der Naturheilkunde, ebenso der High-Tech und Umweltmedizin und um das Pro und Kontra der verschiedenen Ansätze. Außerdem sollte sich jeder angehende Mediziner ehrlich die Frage beantworten: Warum mache ich Medizin? Welche Bedeutung hat Medizin für mich, das Leben und das Wohlbefinden – in der Medizin sollte es nämlich vor allem um Wohlbefinden gehen. Nicht jeder ist oder wird gesund. Denn chronisch kranke Menschen etwa möchten sich genauso wohlfühlen. Weiters müssen wir uns von Anfang an damit beschäftigen und inhaltlich auseinandersetzen, dass der Tod zum Leben gehört und uns folglich auch mit Spiritualität bzw. philosophischen, teils theologischen Fragen beschäftigen.
Auf der anderen Seite braucht es eine Auseinandersetzung mit der Frage: Mit welcher Haltung gehe ich auf denjenigen zu, der von mir Hilfe erwartet? Das hat mit Humanismus zu tun und damit, wie ich dem Leben und der Gesellschaft, den Menschen und der Natur gegenüberstehe. Dann kann ich den Patienten auch zur Eigenverantwortung, zum lebenslangen Lernen und Selbsthilfe motivieren. Eigenverantwortung, individuelle Medizin? Das wäre es! Aber zurzeit existiert das hierarchische System – oben der Arzt, unten der Patient. Und daher passiert nichts.

„Eigenverantwortung auf Rezept“ bzw. medizinische Anweisung sozusagen.
Stimmt. Ich fordere deshalb auch die Schulen schon seit fast 30 Jahren auf, Kinder und Jugendliche zu Gesundheitsbotschaftern auszubilden. Ich habe mit meiner Stiftung viele Projekte zur Prävention von Krankheiten und zur Gesundheitsförderung unterstützt, wobei sich viele davon speziell an Kinder und Jugendliche gerichtet haben. In meinen Augen nämlich ist es unglaublich wichtig, dass Kinder von klein an ein Gesundheitswissen haben, dass sie sich selbst kennenlernen, das Verhältnis von Körper und Seele verinnerlichen, dass sie wissen, welche Hausmittel ihnen zur Verfügung stehen und wie sie diese anwenden können – in der Vorsorge sowie in der Heilung. Welche Rolle spielt Kamillentee, aber genauso was sind Antibiotika und worauf muss man dabei achten? Was mache ich um mein Immunsystem zu stärken? Was können Bewegung und Sport bewirken – von der Aktivierung des Stoffwechsels bis hin zum Abbau von Aggressionen?
Also eigentlich sind die Methoden einfach – wirklich. Gesundheitsbildung ist in meinen Augen auch ein wesentlicher Teil der Zukunft der Medizin. Aber doch so schwer.

Weil die Menschen halt im gelernten System stecken.
Du hast das ja in einem Artikel so schön geschrieben: Man will nicht aus der Höhle heraus.

In deinem neuen Buch beschreibst du einige neue, mutige Wege, die die Medizin einschlagen muss, um zukunftsfähig zu bleiben bzw. zu werden. Welche davon sind die für dich wichtigsten?
Wollen wir eine Medizin auf Augenhöhe, die auf Vertrauen setzt, dann muss die Ärzteschaft von den Patienten und vor allem vom Pflegepersonal lernen. Krankenschwestern nämlich sind nah am Menschen dran und haben in den meisten Fällen auch aus diesem Grund ihren Beruf gewählt: Weil sie sich den Menschen emotional nah fühlen und weil sie wissen, dass sie heilsam sein können. Bei der Ärzteschaft ist das leider nicht immer der Fall. Überspitzt könnte man sagen: Die mit guten Schulabschlüssen werden Ärzte, obwohl sie es oft nicht aus einer inneren Haltung heraus machen, die aber ist gerade in der Medizin so unglaublich wichtig. Ich habe in meinem Berufsleben schon so viel vom Pflegepersonal gelernt und habe über sie sehr viel von meinen Patienten erfahren.

Das Pflegepersonal könnte ja das Sprachrohr sein – für Patienten und für Ärzte.
Ich plädiere schon lange für ein System, das die Hausarztpraxen stärkt und die dort tätigen Personen zu Co-Piloten und Gesundheitsmanager macht. Die Hausärzte agieren darin auch als Präventologen und stärken die Menschen somit in Vorsorge und Eigenverantwortung. Außerdem braucht es in jeder Praxis eine Krankenschwester bzw. einen Pfleger, die oder der die Brücke zum Patienten schlägt. Hausarzt und Krankenschwester, das ist für mich das Dream-Team, das gemeinsam für das Wohl des Patienten arbeitet. Fakt ist: Die Menschen wissen heutzutage nicht, an wen sie sich wenden sollen und sind zunehmend verunsichert. Außerdem werden wir es in Zukunft öfters mit Epidemien und Pandemien zu tun haben, multiresistente Keime werden ein immer größeres Problem darstellen, Volkskrankheiten wie Diabetes, koronare Herzerkrankungen, Adipositas usw. zunehmen. Hinzukommen Digitalisierung, Medien usw., die einmal mehr zur allgemeinen Überforderung beitragen. In so einem Umfeld braucht es dringend eine Person des Vertrauens. Und das ist in meinen Augen der Hausarzt und die Krankenschwester.

…die aber so schon viel arbeitet und „nichts“ verdient.
Stimmt. Daher und auch weil wir beispielsweise in Deutschland in naher Zukunft rund 500.000 Krankenschwestern und Pfleger brauchen, muss der Beruf aufgewertet und attraktiver werden –inhaltlich und finanziell. Sofort. In Deutschland fordere ich sofort Brutto als Netto-Auszahlung (also keine Steuer mehr abziehen) für begrenzte Zeit einführen bis das System eine neues Finanzierungsmodell festgelegt hat.

Wie viel Hoffnung hast du, dass das tatsächlich passiert?
Bei den Jungen ist durchaus ein Umdenken zu spüren. Sie haben zwar noch wenig Einfluss, aber der wächst. Da passiert doch eine ganze Reihe, auch wenn es ein weiter Weg ist. Daher braucht es kleine, regionale Schritte. Wenn sich die Menschen in Netzwerken zusammentun, ist vieles möglich. Ich habe das ja selbst erlebt – bei den Verhandlungen mit den Krankenkassen, bei Schulprojekten, bei der Mikrotherapie. Heute wird meine Methode weltweit nachgefragt, obwohl sie, als ich Mitte der 1980er Jahre damit angefangen habe, von Orthopäden, Chirurgen usw. bekämpft und die Mikrotherapie, also die Behandlung beispielsweise von Bandscheibenvorfällen oder Tumoren mit Mikroinstrumenten im Computertomographen oder MRTs, als Hokuspokus bezeichnet wurde.

Können auch Patienten etwas bewirken, sodass die Medizin wieder menschlicher wird?
Ja, jeder kann das. Beispielsweise kann sich jeder, der zum Arzt geht, drei Fragen aufschreiben, die er auf jeden Fall beantwortet haben möchte, bevor er wieder zur Tür hinausgeht. So zwingt man dem Gegenüber ein Gespräch auf – und bei all dem Zeitdruck, der von der anderen Seite kommen mag: Wir bezahlen ja dafür. Wenn wir in ein Geschäft gehen, wollen wir Beratung und beste Qualität. Warum fordern wir die nicht auch beim Arzt ein?
Oder man wendet sich an den Sachbearbeiter der Krankenkasse, beispielsweise wenn bestimmte Leistungen nicht von der Kasse bezahlt werden. In Deutschland etwa müssen Frauen, die Kosten für eine Früherkennungsmammografie selbst tragen, sofern diese nicht in Screening-Zentren stattfindet. Das ist doch absurd. Warum fragen wir nicht nach: Wieso muss ich selbst bezahlen? Wie kann man das ändern? Was kann ich tun? Kann ich mich zusatzversichern? Zum Beispiel für Naturmedizin, Psychosomatik, Krankenpflege etc.! Daher plädiere ich übrigens schon lange für eine „Priva-Setzliche“ Versicherung: gesetzlich grundversichert und privat zusätzlich in die individuelle Gesundheit investieren.
Wir sind also nicht hoffnungslos. Wir müssen nur die Möglichkeiten nutzen, die wir haben. Und wir sollten sofort damit anfangen, denn der Umbau des Systems kann nur in kleinen Schritten erfolgen. Wenn wir uns aber alle zusammentun, in Teams denken und arbeiten, Kostenträger und Investoren ins Boot holen, auf Prävention und auch Umweltmedizin setzten, können wir alle gemeinsam die Medizin von morgen verändern. Zu einer Spitzenmedizin für alle.
 
Vielen Dank für das wunderbare Gespräch, Dietrich. Und vor allem auch noch nachträglich alles Gute zum Geburtstag – gesund bleiben 😉

Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer (© Laura Möllemann)

Zur Person: Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer

…ist Arzt und Autor, Vordenker und Vorkämpfer, Wissenschaftler und Wegbereiter. In all seinem Tun geht es dem Bochumer Radiologen und Begründer der „Mikrotherapie“ (mikro-invasive Behandlung mit Hilfe von tomographischen Sichtmethoden insbesondere von Rückenschmerzen und Krebs) darum, Voraussetzungen für ein gesundes, wohlbefindliches und zufriedenes Leben für jeden Menschen zu schaffen. Der Gründer des interdisziplinär arbeitenden Grönemeyer Instituts in Bochum und anderen Standorten in Deutschland engagiert sich außerdem für einen bewussteren Umgang mit den Themen Gesundheit, Ernährung, Prävention, Digitalisierung sowie Spitzenmedizin und Spitzenforschung. Sein Ziel: Hightech-Schulmedizin und Naturheilkunde, Psychosomatik, Sozial- und Umweltmedizin als eine Einheit im Sinne einer humanen Humanmedizin zu vereinen. Er prägte den Begriff „Weltmedizin“ dafür. Am 12. November feierte Dietrich Grönemeyer seinen 70. Geburtstag.
www.groenemeyerinstitut.de
www.heilpflanzenwelt.de
www.worldmedicine.eu

Buchtipp: MEDIZIN VERÄNDERN – Heilung, Humanität und Innovation

Der Dreiklang für gute Gesundheit und ein menschenwürdiges und zukunftsorientiertes Gesundheitswesen.

In seinem neuesten Buch (erschienen im Verlag Ludwig) präsentiert Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer umfassende Aufklärung und weitsichtige Maßnahmen, damit der dringend notwendige Strukturwandel im Gesundheitswesen gelingt, und Medizin zu einer würdevollen Heilkunst zwischen HighTech und Naturheilkunde, zwischen Psychosomatik und Umweltmedizin wird.

www.medizinveraendern.de

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Im Gespräch mit...,Vertrauen

Medizin verändern – Gesundheit neu denken

Dietrich Grönemeyer hat uns zum 70. Geburtstag ein Buch geschenkt. Im Gespräch gibt er erste Einblicke, erklärt, warum und wie wir für unsere Gesundheit Verantwortung übernehmen können, welche Wege eine zukunftsfähige Medizin einschlagen sollte und wieso er Hoffnung hat, dass sich tatsächlich etwas ändert.