Plattform für verantwortungsvolle und mutige Zukunftslobbyisten

Im zweiten Wiener Gemeindebezirk befindet sich auf einer Fläche von mehr als 4.000 m² ein einzigartiger städtischer Lebens- und Lerngarten: Die City Farm Augarten. Zwischen der Porzellanmanufaktur auf der einen und den Wiener Sängerknaben auf der anderen Seite wird das ganze Jahr biologischer Gemüse- und Obstanbau gepflegt. Und zwar weniger von professionellen Landwirten, als vielmehr von Menschen, die Lust haben, ökologische Gartenkultur ganzheitlich zu erleben. Nach dem Motto „Man kann nie früh genug beginnen und es ist nie zu spät damit anzufangen“ ist der Garten im Herzen von Wien ein Ort für Groß und Klein, Alt und Jung: „Die City Farm ist ein sozialer Ort. Es zeigt sich immer wieder, dass gerade das generationenübergreifende Element sehr wichtig ist“, weiß Gründer und Leiter Wolfgang Palme, dem die Liebe zum Gartenbau sozusagen in die Wiege gelegt wurde, hat er doch schon als Kind mit seiner Oma das Gemüsebeet umgegraben. Seit rund drei Jahrzehnten ist er als Leiter der Abteilung Gemüsebau an der Höheren Bundeslehr- und Forschungssanstalt Schönbrunn tätig, wo er sich mit zukunftsfähigen Anbauarten beschäftigt, diese weiterentwickelt und erforscht, wie diese von der Landwirtschaft genutzt werden können. Doch die Forschung ist nur eine Seite der Landwirtschaftsmedaille. Auf der anderen Seite braucht es ebenso gartenpädagogische Vermittlung. Nur so erreicht man die Menschen.

Kinder in den Garten

Im Rahmen von Workshops, Erlebnistouren und Gartenführungen, Veranstaltungen, Märkten und Gartenspasswochen oder beim Eingraben von Socken (was es damit auf sich hat, steht am Ende dieses Beitrags) werden in der City Farm praktisches Wissen und Verständnis für eine zukunftstaugliche, ressourcenschonende und krisensichere Landwirtschaft vermittelt. Denn nur diese kann die Versorgung mit frischen Lebensmitteln zu jeder Jahreszeit bieten. Dass dabei ein Fokus auf Kinder gelegt wird, hat mehrere Gründe: So hat die heutige Kindergeneration oft keine Omas und Opas, die ihren Enkeln das Wissen über nachhaltigen Gemüse- und Obstanbau, die Bedeutung biologischer Lebensmittel und deren Verarbeitung vermitteln können. Hier springt die City Farm Augarten ein, zeigt Kindern und Jugendlichen, wie und wo Gemüse und Obst bestens gedeihen und wie der Kompostplatz für geschlossene Nährstoffkreisläufe sorgen kann. Damit nicht genug kann die Ernte in einer mit Solarstrom betriebenen Gartenküche verarbeitet und gemeinsam verspeist werden.

City Farm für Kinder ((© www.cityfarm.at)

Gartenwissen von Grund auf zu erlernen, es buchstäblich zu erspüren und zu erfahren, ist essenziell. Nicht zuletzt, weil es im Prinzip die Kinder von heute sind, die ausbaden müssen, was ihre Eltern und Großeltern – oder eigentlich wir – mit der mittlerweile hochtechnologischen und auf Turboerträge ausgerichteten Landwirtschaft angerichtet haben. Dabei geht es nicht darum, jemandem die Schuld in die Schuhe zu schieben, sondern aufzuzeigen, dass es höchste Zeit ist, dass wir etwas ändern.
Wobei es nicht nur bei „Städtern“ vorkommt, dass sie noch nie eine Kartoffel ausgegraben haben. Auf seinen unzähligen Vorträgen, die ihn quer durch Österreich führen, hört Wolfgang immer wieder, dass auch den Kindern auf dem Land nicht mehr vermittelt wird, wie man Gemüse anbaut: „Es ist ein gesellschaftliches Defizit in unserer westlichen Welt. Und das hat wiederum mit dem agrarindustriellen Prozess von der Produktion bis zur Vermarktung zu tun, der sich in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt hat. Die Anonymisierung im Supermarkt schafft Distanz. Nun müssen sich die Seiten wieder annähern – zu beiderseitigem Vorteil.“

City Farm geht an die Grenzen

Wir müssen also wieder einen Zugang zur Landwirtschaft bekommen – sei es durch Direktvermarktung, Wochenmärkte, Gemeinschaftsgärten wie die City Farm Augarten oder über einen anderen Weg. Das Problem ist allerdings, dass sich die Menschen schon daran gewöhnt haben, das ganze Jahr über alles zu bekommen. „Gibt es im Winter keine Erdbeeren, ist das für viele bereits Verzicht bzw. mit einem Verlustgedanken verbunden. Wir müssen erkennen, dass die Natur einen Rhythmus hat, dass es diesen braucht und dass es auch uns guttut, wenn wir uns an diesen Rhythmus halten“, so Wolfgang.
Wobei man sich durchaus fragen muss, was Verzicht eigentlich bedeutet – immerhin wachsen etwa in den Beeten der Wiener City Farm unzählige Gemüsearten, die es in keinem Supermarkt zu kaufen gibt. Und während man im Sommer mit einer schier umfassenden Sortensammlung an Tomaten – oder österreichisch Paradeiser – aufwarten kann, präsentieren die „urbanen Gärtner“ im Winter den einzigen Frischgemüse-Schaugarten der Stadt. Die Natur bietet also das ganze Jahr ausreichend Vielfalt, die wir, um es mit Wolfgangs Worten zu sagen, „auf natürliche Weise ausreizen müssen.“ Das aber bedeutet freilich nicht, dass auch das ganze Jahr alles wächst. Und das ist gar nicht nötig, wie das Beispiel Wintergemüse zeigt: Es gibt 77 (!) Sorten, die über mehrere Wintermonate verfügbar sind und mit simplen Methoden angebaut werden können – ganz ohne Technologie, Heizung oder Düngemittel.

„Ressourcenschonend an die Grenzen zu gehen, ist eine reizvolle Herausforderung, die übrigens auch im großen Stil funktioniert“, weiß der Gemüseexperte, dem zugleich klar ist, dass biologische Low-Input-Landwirtschaft nicht so gut plan- und kontrollierbar ist – um nicht zu sagen gar nicht. „Haben wir einen milden Herbst, sind die Radieschen vielleicht schon im November zum Ernten bereit. Ansonsten halt erst rund um Weihnachten. Der Handel aber verlangt eine bestimmte Menge von bestimmten Gemüsesorten zu einer bestimmten Zeit. Saisonale, biologische Landwirtschaft kann das oft nicht erfüllen.“

Ohne ein Umdenken bei allen Beteiligten wird es nicht funktionieren. Soll heißen: Das Thema hat auch mit der Nachfrage auf Konsumentenseite zu tun. Solange die Erdbeeren im Winter gekauft werden, wird der Handel sie ins Regal legen. Dabei allerdings muss man sich im Klaren sein, dass man nicht nur ein Produkt kauft, sondern eine Entstehungsgeschichte. Es liegt somit an uns Konsumenten, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln und Verantwortung zu übernehmen. Oder wie Wolfgang sagt: „Wintergemüse ist eine basisdemokratische Widerstandsbewegung. Das hat also durchaus eine politische Dimension.“

City Farm Augarten ((© www.cityfarm.at)

Last Exit: Biologische Landwirtschaft

Seit Jahren macht sich der Umwelt- und Agrarpädagoge für biologische Landwirtschaft stark, denn er ist davon überzeugt, dass auf lange Sicht kein Weg daran vorbeiführt. Immer wieder sieht er sich jedoch mit Gegenargumenten konfrontiert: Das geht sich nie aus. Mehr als 20 Prozent sind nicht drin. Bio ist viel zu teuer. Da verhungern alle. „Dabei ist das Gegenteil der Fall“, so Wolfgang, der sogar von Agrarexperten Rückendeckung bekommt. „Wenn wir weiterhin nur auf Turboerträge setzen, werden wir über kurz oder lang gar nichts mehr haben. Man kann das mit einem Marathonläufer und einem Sprinter vergleichen. Zu Beginn hat der Sprinter die Nase vorne. Wer aber kommt am Ende ans Ziel?“
Es mag sein, dass wir ein bisschen zurückschrauben bzw. unter anderem auf Erdbeeren im Winter verzichten müssen. Wobei einmal mehr von Verzicht keine Rede sein kann, immerhin wirft der Österreicher im Schnitt pro Jahr 173 kg Lebensmittel weg. Und nein, wir können den schwarzen Peter nicht der Landwirtschaft, Gastronomie und dem Handel zuschieben, schließlich landen 53 Prozent aller weggeworfenen Lebensmittel im privaten Hausmüll.
Für Wolfgang Palme ist klar: „Wir befinden uns seit Jahren in einer Art Verteidigungskampf, die industrielle Landwirtschaft schön zu reden. Wie wäre es, wenn es sich Österreich stattdessen zum Ziel machen würde, das erste Bioland Europas oder gar der Welt zu werden? Was auch immer: Wir müssen schnellstens und radikal umdenken und unsere gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Wenn wir nämlich so weitermachen, werden wir langfristig gar keine Lebensmittel mehr ernten können, die diese Bezeichnung verdienen.“

 

 

Wolfgang Palme (im Bild mit City Farm-Mitgründerin Ingrid Greisenegger – Apropos: Für alle in diesem Artikel verwendeten Bilder gilt © www.cityfarm.wien), ist Gründer und Leiter der City Farm Augarten in Wien. Sein umfassendes Know-how gibt er außerdem als Leiter der Abteilung Gemüsebau an der Höheren Bundeslehr- und Forschungsanstalt Schönbrunn und als Vortragender in ganz Österreich weiter.

www.cityfarm.wien

 

Zukunftstipp: Beweisstück Socke
Beim Frühlingsfest am 30. April 2022 startet die City Farm Augarten das „Beweisstück Socke“. Bei diesem Bodenexperiment werden Socken ca. 30 cm tief im Boden vergraben, um in der Folge den Verrottungsprozess miterleben zu können. Wer möchte, kann seine Erfahrungen mit Fotos dokumentieren, einsenden und an einer Verlosung eines Dinners auf der City Farm teilnehmen. Vorrangig geht es allerdings darum aufzuzeigen, wie gesund der Boden ist, in dem die Socken vergraben werden. Vereinfacht gesagt gilt: Je schneller das organische Material, sprich die Socke, zu Humus zersetzt wird, umso gesünder der Boden, denn umso mehr Lebewesen – von mikroskopisch klein bis regenwurmgroß – befinden sich ebendort.
Wer Ende April nicht in Wien sein kann: Auf Anfrage (Mail an: info@cityfarm.wien) werden Socken und Anleitung auch verschickt.

 

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weiter neu denken

Zum Jahresabschluss habe ich mir in einem Feedbackgespräch mit unserer Geschäftsführung gewünscht, dass ich im kommenden Jahr wieder mehr neues lernen möchte. Meinen Horizont erweitern und neue Perspektiven gewinnen möchte. Wer die Zukunft gestalten will, der muss offen für Neues sein – Neues aufsaugen, aufnehmen, inhalieren, die Dinge neu formen. So in etwa stellte ich mir das für 2023 zumindest vor. Irgendwie lebendig, aktiv und vorwärts.
Doch während der Feiertage bin ich in den inneren Diskurs gegangen. Das Jahr 2022 war für mich – um es in einem Wort zu sagen – voll. Voll im Sinne des sprichwörtlichen Fasses, dass nicht nur droht überzulaufen, sondern dies auch tat. Und so war mir plötzlich klar, dass mein Wunsch für 2023 nicht darin besteht, dieses bereits volle Fass weiter aufzufüllen. Vielmehr wünsche ich mir für das anstehende Jahr ein halb volles Fass – wobei die Betonung auf voll liegt, denn halb leer ist keine Option für mich.

Braucht es wirklich mehr?

Ich bin davon überzeugt, dass es viel positiver Energie von uns allen bedarf, eine gute und glückliche Zukunft zu gestalten. Doch wie soll das gehen, wenn wir ständig kurz vor dem Überlaufen stehen? Brauchen wir tatsächlich immer noch mehr Neues? Müssen wir uns wirklich kontinuierlich neues Wissen aneignen? Ist es sinnvoll bzw. erstrebenswert, im Hamsterrad von mehr, mehr und nochmals mehr zu bleiben? 
Meiner Meinung nach nein. Nicht höher, weiter und schneller sollte die Prämisse sein, sondern partizipativer, sinnhafter und empathischer. Achtsamer im Umgang mit unseren Ressourcen – unseren eigenen, die unserer Mitmenschen und die der Erde. Wir stehen vor großen Herausforderungen. Doch müssen wir Neues lernen, um diese Herausforderungen zu meistern und zu bestehen.

Verlernen, um zu lernen

Ich habe meine Zweifel und frage mich, ob wir nicht lieber verlernen sollten? Ein Verlernen von Glaubenssätzen, von Paradigmen, von „das haben wir schon immer so gemacht“. Können wir durch aktives Verlernen Raum für neue Perspektiven schaffen, Bilder einer Zukunft, die frei von den Grenzen der eigenen erlernten Kultur ist? Frei von den Grenzen im Denken der Möglichkeiten?
Je mehr ich darüber nachgedacht habe (und nach wie vor nachdenke), umso einfacher erscheint es mir, Neues zu lernen, als Bestehendes und Gewohntes zu verlernen. Und wer weiß: Vielleicht bietet gerade das Verlernen bzw. der Prozess des Verlernens ungeahnte Möglichkeiten für Veränderungen, Wandel und neue Erfahrungen?
Für mich ist Lernen Gegenwart. Verlernen ist Zukunft. Und lernen zu verlernen, um dabei zu lernen, ist Zukunftsgestaltung.

Über die Autorin…

Janina Clever leitet als Industrie Designerin bei Generationdesign in Wuppertal komplexe Design- und Strategieprojekte. Die studierte Arbeits- und Organisationspsychologin setzt auf nachhaltigen Mehrwert und Nutzen, der durch agile und interdisziplinäre Austauschformate und Arbeitsmethoden entsteht. Dabei sieht sie in der Fusion von digitalen und realen Formaten für die Zukunft noch unentdeckte Potenziale. Janina Clever ist außerdem Teil des Zukunftsrates von Zukunft Neu Denken.

 

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Müssen wir lernen zu verlernen?

Lebenslanges Lernen ist in aller Munde. Janina Clever aber fragt sich: Müssen wir tatsächlich immer mehr wissen? Oder sollten wir nicht lieber lernen zu verlernen?

2.562 Menschen starben 2021 auf Deutschlands Straßen, in Österreich waren es 359. In den meisten Fällen sind diese auf nicht angepasste Fahrgeschwindigkeit, Unachtsamkeit bzw. Ablenkung und Vorrangverletzung zurückzuführen. Mit anderen Worten: Verkehrsunfälle haben meist eines gemeinsam – nämlich menschliches Fehlverhalten. Und das lässt sich ändern. Schon durch das Einhalten von Tempolimits und sonstigen Vorschriften sowie durch kontrolliertes und achtsames Fahren könnte dazu beigetragen werden, dass sich die Zahl der Verletzten und Toten im Straßenverkehr deutlich reduziert. Und nicht zuletzt könnte jeder einzelne für die eigene Sicherheit sorgen. Denn Tatsache ist: Hinter jedem Steuer stecken Menschen und Geschichten.

Crash-Kurs

In der Verkehrspolitik spielt das Thema Verkehrssicherheit europaweit eine wichtige Rolle. So wurden beispielsweise Maßnahmen festgelegt, um bereits bei der Fahrzeugherstellung besonders gefährliche Stoffe zu vermeiden und die Wiederverwendung sowie Verwertung von Fahrzeugen mit Totalschaden und deren Bauteile zu intensivieren. Ein von der Versicherung festgestellter (wirtschaftlicher) Totalschaden bedeutet also nicht automatisch, dass das Fahrzeug Schrott ist. Schließlich besteht ein Auto aus rund 10.000 Einzelteilen, die von Hersteller zu Hersteller unterschiedlich sind. Universal-Teile gibt es nicht, was ein Crash-Fahrzeug in gewisser Weise zum begehrten Ersatzteillager macht. Das am häufigsten ausgebaute Ersatzteil, bevor ein Auto verschrottet wird, ist übrigens der Katalysator, in dem sich unter anderem seltene Metalle befinden.

Eine Frage der Mobilität

Die Frage aber ist nicht nur, was passiert mit geschredderten Fahrzeugteilen – die werden sortiert und weiterverarbeitet. Sondern auch: Was passiert mit dem Menschen, der hinter dem Steuer gesessen hat – egal, ob sein Auto aufgrund eines Unfalls auf dem Schrottplatz gelandet ist oder schlichtweg, weil es nicht mehr zugelassen werden konnte? Steht das neue, noch größere, noch schnellere, noch bessere Fahrzeug bereits in der Garage? Oder setzt man auf einen kleineren Straßenflitzer, auf E-, Hybrid- oder eine andere Alternative? Oder kommt man sogar ohne Auto durchs Leben? Steigt man möglicherweise auf ein motorisiertes Zweirad um oder tritt man gar in die Pedale? Und wie schaut es mit den Öffis aus?
Um all die Fragen auf einen Punkt zu bringen: Was braucht es, damit Mobilität in Zukunft anders gedacht wird bzw. werden kann?

 

Über den Fotografen

Die Bilder wurden von Bence Szalai aufgenommen. Der Fotograf und Filmemacher möchte den Blick des Betrachters auf die Details lenken. Er sieht seine Arbeit als das Radio, den Schallplattenspieler oder den Lautsprecher, über den die Musik abgespielt bzw. gehört wird und dessen Qualität das Hörerlebnis maßgeblich beeinflusst.
www.rnbpictures.com

 

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Disconnect,Fotostrecke

Nur ein Kratzer: Mobilität nach dem Schrottplatz

Hinter jedem Steuer steckt eine Geschichte. Warum ein Crash-Car mehr als nur Schrott ist und wieso wir Mobilität neu denken sollten. Eine Fotostrecke von Bence Szalai.

Im Kreuzworträtsel hat das Vertrauen in die Zukunft acht, manchmal zehn Buchstaben. Im echten Leben benötigen wir dafür wesentlich mehr Buchstaben. Und immer öfter fehlen uns die Worte, wenn es darum geht, vertrauensvoll in die Welt von morgen zu schauen. Das zeigte etwa eine im Frühjahr 2022 vom SORA-Institut durchgeführte Umfrage unter rund 24.000 jungen Österreichern zwischen 16 und 25 Jahren. Diese nämlich ergab, dass es nicht gerade zum Besten steht mit dem Vertrauen in die Zukunft. Vor allem der Krieg in der Ukraine (84 %) bereitet der Generation Z Sorgen, aber auch der Klimawandel (67 %), die immer breiter werdende Schere zwischen Arm und Reich (59 %) sowie Pandemie und Wirtschaftskrise (jeweils 55 %). Dass dabei nur wenig Vertrauen in die Zukunft aufkommt, habe laut Umfrage insbesondere damit zu tun, dass wir bei den großen Zukunftsthemen – von der zunehmenden ökonomischen Ungleichheit über den Klimawandel bis hin zur Pflegeproblematik, Energiewende und Bildung – schlecht unterwegs sind. Wobei mit „wir“ eigentlich die Politik gemeint ist, denn diese handle schon seit Jahren zu kurzfristig und zu populistisch, sind 88 % der Befragten überzeugt.
Dass auch andere Generationen – ob Y, X, Babyboomer oder wie sie sonst noch so heißen – eher misstrauisch in Richtung Zukunft schielen, bedarf wohl keiner weiteren Umfragen. Doch wäre es zu kurz gedacht, den politischen Entscheidungsträgern den schwarzen Peter zuzuschieben, sich zurückzulehnen und abwartend Däumchen zu drehen. Zum einen, weil es nicht so ausschaut, als würde sich die Politik alsbald und voller Tatendrang um die anstehenden Herausforderungen bemühen. Und zum anderen ist es nicht nur Aufgabe der Politik, sich um Lösungen für die aktuellen Probleme zu bemühen. Dessen sind sich die Jungen übrigens durchaus bewusst: So sind 71 % der Meinung, dass wir alle unseren Lebensstil verändern müssen, um beispielsweise den Klimawandel zu bekämpfen.

Es liegt an uns selbst

Dass wir das Ruder selbst herumreißen, Verantwortung übernehmen und mutig (voran)gehen können, stimmt positiv – zumindest mich. Eine entscheidende Rolle spielt dabei allerdings das Vertrauen. Dieses sorgt nämlich unter anderem dafür, dass wir uns wohlfühlen und zuversichtlich sind. Was aber, wenn man sich eben hinsichtlich der Zukunft mit dem Vertrauen schwertut? Wie soll man Zuversicht schöpfen, wenn einen nur mehr Sorgen und Ängste plagen? Wie soll man sich wohlfühlen, wenn sich alles nur noch schlecht anfühlt?
Was das Wohlbefinden angeht, sollten wir wissen, dass dieses weniger mit dem zusammenhängt, was kommt, als vielmehr mit dem, was ist und was war – also mit den aktuellen Erlebnissen sowie mit unseren Erinnerungen. In seinem Weltbestseller „Thinking, Fast and Slow“ beschreibt der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann unter anderem das Konzept der zwei Selbste: So haben wir ein erlebendes Selbst, das sich andauernd mit der Frage beschäftigt: „Fühle ich mich gerade wohl oder tut es weh?“ und zugleich ein erinnerndes Selbst, dass die Frage beantwortet: „Wie war es im Großen und Ganzen?“ Kahnemann ist mittlerweile davon überzeugt, dass das eigene Wohlbefinden nicht nur damit zu tun hat, wie es uns mit dem, was wir gerade erleben, geht, sondern dass wir immer auch Urteile und Bewertungen über das bereits Erlebte einfließen lassen. Oder um es mit seinen Worten zu sagen:

„Wir müssen uns mit der Komplexität einer hybriden Sichtweise abfinden, bei der das Wohlbefinden beider Selbste berücksichtigt wird.“

Gehe ich nun davon aus, dass mein Wohlbefinden in der Zukunft sowohl davon abhängt, was ich in Zukunft erleben werde, als auch davon, was ich in der Vergangenheit erlebt habe, dann sollten wir doch alles daransetzen, heute schon positive Erinnerungen zu schaffen, sodass wir morgen eine Welt haben, in der wir uns wohlfühlen können.

Vertrauen lernen

Soweit so gut. Um das Vertrauen in die Zukunft steht es trotzdem noch nicht besser bestellt? Das mag daran liegen, dass wir in die Zukunft gar nicht vertrauen können. Nicht, weil sie sich chaotisch, alles andere als planbar und sicher präsentiert, uns im Gegenteil Rätsel aufgibt und die eine oder andere Sorgenfalte beschert. Das ist eine Tatsache, die wir akzeptieren und mit der wir leben müssen. Der Grund, warum wir der Zukunft nicht vertrauen können, ist, dass Vertrauen immer mit Menschen zu tun hat – mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen, vom engsten Familienkreis über entfernt Bekannte bis hin zur Gesellschaft generell. Sowohl das Selbst- als auch das Vertrauen gegenüber anderen ist eng mit Erfahrungswerten verbunden. So haben wir beispielsweise schon früh gelernt, ob wir auf uns selbst und unseren Fähigkeiten und/oder auf andere Menschen bauen können. Vertrauen ist folglich eine erlernte Entscheidung. Und das ist gut, denn somit liegt es erstens an uns, ob wir vertrauen oder nicht. Und zweitens können wir es wieder lernen – sofern uns das Vertrauen abhandengekommen ist.

Hoffnungsvoll ins Morgen

Wenn wir vom Vertrauen in die Zukunft sprechen, geht es also darum, den eigenen Fähigkeiten als auch anderen Menschen zu vertrauen und darauf, dass man gemeinsam den Weg meistern wird. Es gilt, (wieder) Zuversicht zu erlangen und sich beim Gedanken an die Welt von morgen wohl zu fühlen. Das lässt die Hoffnung auf eine gute Zukunft immer noch nicht wachsen, schließlich – so das allgemeine „Totschlagargument“ – weiß niemand, was kommen wird. Befasst man sich aber genauer mit dem Thema Vertrauen, schaut die Sache anders aus.
Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858-1918) beschrieb Vertrauen als einen Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen, eine „Hypothese künftigen Verhaltens“, auf die wir konkretes Handeln gründen. Wer vertraut, geht also bewusst und im guten Glauben davon aus, dass man selbst und/oder die Mitmenschen sich so oder so verhalten und dass sich in der Folge eine Sache so entwickelt, wie es versprochen wurde oder wie man es erhofft hat. Ob diese dann tatsächlich so eintritt, ist eine andere Sache und für den ersten vertrauensvollen Schritt gar nicht entscheidend. Viel wichtiger ist, dass wir Vertrauen als ein reißfestes Band begreifen, an dem wir uns auf dem Weg ins Neue, Unbekannte – oder eben in die Zukunft – anhalten und orientieren können, sogar dann, wenn Umstände (noch) unsicher erscheinen. Genauso aber sollten wir uns auch darüber im Klaren sein, dass sich Vertrauen ungeheuer schnell und durch kleinste Dinge zerstören lässt.

Was und wen bringst du mit?

Inwiefern wir anderen Menschen vertrauen (können), ist freilich so eine Sache. Doch uns selbst können oder vielmehr müssen wir auf jeden Fall vertrauen. Mit Blick in die Zukunft bedeutet das, sich seiner Fähigkeiten und Begabungen, seiner Charaktereigenschaften, seiner Werte und Haltungen bewusst zu werden. Diese sind sozusagen die Werkzeuge, die uns helfen, Situationen im Jetzt, aber auch im Morgen zu meistern und anstehende Aufgaben zu lösen.
Also: Über welche Fähigkeiten und Kompetenzen verfügst du? Was kannst du gut? Was kannst du, was viele andere nicht (so gut) können? Welche Kenntnisse und Leidenschaften treiben dich an? Worüber möchtest du immer mehr wissen? Was weckt deine Neugier, deinen Wissensdrang? Womit beschäftigst du dich intensiv – mehr als die meisten Menschen? Welche Werte vertrittst du? Welche Werte sind dir wichtig? Was gibt deinem Leben Sinn und Richtung? Welche Stärke macht dich aus, für welche Tugend stehst du, welche besondere Eigenschaft verkörperst du?
Neben all dem, was wir selbst mitbringen, kommt es auf Beziehungen, auf Gruppen und Gemeinschaften an, denen wir angehören. Womit wir wieder bei den Mitmenschen wären. Denn Tatsache ist: Gemeinsam können wir besser für unsere Interessen eintreten, uns gegenseitig motivieren und uns durch gegenseitiges Vertrauen stärken. Spätestens dann kennen wir des (Kreuzwort-)Rätsels Lösung und wissen, dass „Vertrauen in die Zukunft“ Hoffnung oder Zuversicht oder noch besser beides zusammen bedeutet.

 

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Christiane Mähr,Featured,Vertrauen

Vertrauen wir uns mal selbst – dann der Zukunft

Warum wir gar nicht in die Zukunft vertrauen können, was das mit Ängsten und Sorgen, Erinnerungen und Erlebnissen zu tun hat und warum wir es selbst in der Hand haben, mutig in die Zukunft zu gehen und dabei andere an der Hand nehmen sollten.