Plattform für verantwortungsvolle und mutige Zukunftslobbyisten

Zukunftsdenken

Mit dem Dokumentarfilm „Die Zukunft ist besser als ihr Ruf“ habt ihr 2017 ein positives Bild der Zukunft gezeichnet, während ansonsten schon damals gefühlt nur von Krisen gesprochen wurde. Hat sich deine Sicht auf die Zukunft durch diesen Film verändert?
Produzent Michael Kitzberger wollte Menschen vor die Kamera holen, die sich gesellschaftlich engagieren, die einer eigenen Überzeugung folgen und Dinge angehen, die nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihre Umwelt wichtig sind. Menschen, die durch ihr Tun Hoffnung geben, Mut machen und inspirieren. In der Schnittphase haben wir nochmals über den Titel nachgedacht. Und zufällig bin ich beim Theater in der Josefstadt über den Satz „Die Zukunft ist besser als ihr Ruf“ gestolpert. Das ganze Team war sich einig, dass das der richtige Titel ist, schließlich setzen sich alle Protagonisten für eine Zukunft ein, die ihnen lebenswert, menschlich nahbar und ökologisch sinnvoll erscheint. Der Film ermöglicht eine Art des Innehaltens, bietet eine kurze Irritation inmitten des ganzen „schlecht Redens“, sodass die Zuschauer hinterfragen können, was sie selbst über die Zukunft glauben und wie diese sein könnte. Auch ich frage mich oft: Was kann ich selbst beitragen, damit die Zukunft besser wird als ihr Ruf? Was braucht es, damit Menschen Handlungen setzen und ihre eigenen Potenziale ausloten im Hinblick auf das, was möglich ist? Und: Sind diejenigen, die glauben, einen neuen Weg gefunden zu haben, offen genug, in weiterer Folge möglicherweise etwas wieder zu integrieren, was man zuvor weggeschoben hat?

In vielen Dingen braucht es sicherlich eine gewisse Radikalität, damit bestehende Dinge überhaupt aufbrechen können, aber eben auch den kritischen Diskurs im Anschluss.
Ja, die Fähigkeit, in der eigenen Bubble etwas Neues, etwas Anderes auszuprobieren. Aber eben auch etwa im zwischenmenschlichen Dialog herauszufinden, was nicht funktioniert, was man wieder bzw. noch ändern sollte usw. – das ist ein anspruchsvoller Prozess. Ich durfte sehr früh miterleben, was es heißt, neue Weg zu gehen, von denen viele sagten: Das geht doch nicht Und es hat mich sehr geprägt, als Teil einer Gruppe von Pionieren aufgewachsen zu sein. (Teresas Vater hat 1990 in Herzogenburg eine alternative Schule gegründet – heute Lernwerkstatt im Wasserschloss in Pottenbrunn, Niederösterreich; Anm.)

Hast du vielleicht aus diesem Grund den Beruf der Filmemacherin gewählt, bei dem du viel gestalten kannst?
Es war weniger eine bewusste Entscheidung, als vielmehr ein innerer Ruf. Irgendwann hatte ich die Klarheit, dass das mein Platz ist. Ich denke mir gerne neue Sachen aus. Da kommt es mir sehr zugute, dass ich das als Künstlerin auch umsetzen kann. Wobei die frühe Prägung sicherlich eine Rolle gespielt hat, denn selbst wenn alle sagen, dass etwas nicht geht, kann es trotzdem funktionieren. Anfangs habe ich diesen Glauben an die Möglichkeit des Gestaltens vielleicht mit einer gewissen Naivität weitergetragen und musste auch feststellen, wo die Grenzen aus der individuellen Position heraus liegen.

Mittlerweile aber machst Du Filme, die motivieren. Die meisten Dokumentarfilme hingegen zeichnen dystopische Zukunftsbilder.  
Nun, Dokumentarfilme beschäftigen sich mit der Realität und haben durchaus die Aufgabe, Missstände aufzuzeigen. Allerdings bleibt dann am Ende oft das Gefühl, alles läuft schief und man selbst kann nichts dagegen tun. Doch man kann sich als Filmemacher auch bewusst entscheiden, nicht nur Probleme aufzudecken, sondern sich außerdem auf die Suche nach möglichen Antworten und Lösungen zu begeben. In „Die Zukunft ist besser als ihr Ruf“ waren das eben Menschen, die für sich selbst Wege gefunden haben und dadurch vielleicht Zuschauer inspirieren. Es ist ohnedies meine Hoffnung, dass einzelne Menschen erkennen, was ihre Aufgabe ist und wie sie diese wahrnehmen und Rahmenbedingungen schaffen können, sodass ihr Umfeld reagiert.
Wenn ich das große Ganze betrachte und mir überlege, wo es hinauslaufen kann, werde ich auch dystopisch. Schau ich mir aber an, was ich selbst tun und wie ich konstruktiv beitragen kann, komme ich in eine lösungsorientierte Denkweise und in meine kreative Energie. Auch wenn ich mich dabei vielleicht auf das beschränke, was in meiner Macht liegt.

Ich bin ja der Meinung, dass wir ohnehin nur den eigenen Machtkreis beeinflussen können. Oder sagen wir so: Ich kann andere nicht verändern. Doch ich kann sie durch mein Tun ermutigen.
Ja. Manchmal aber braucht mehr als nur meinen Beitrag. Dann muss ich akzeptieren, dass ich nur für mein eigenes Leben verantwortlich bin und nur mir selbst gegenüber Rechenschaft ablegen muss. Wenn ich an all die tollen Menschen denke, die alles gegeben und viel bewegt haben und trotzdem gestorben sind, ohne dass sie die Probleme, mit denen sie sich beschäftigt haben, lösen konnten, macht mich das einerseits traurig. Denn es zeigt, wie starr unsere Welt ist und wie langsam Veränderungen stattfinden. Andererseits hat es mich zu dem Punkt gebracht, dass ich das Leben, das mir gegeben wurde, sinnvoll nutzen, es aber auch leben möchte. Soll heißen: Wenn ich mich nur mit dem Negativen beschäftige, verpasse ich mitunter die vielen schönen und guten Dinge.

Da bin ich voll bei Dir. Zumal nicht nur schlechte Dinge passieren. Sie sind nur „lauter“ als all das Positive, das Mut und Lust auf Zukunft machen kann – wie ja „Die Zukunft ist besser als ihr Ruf“ zeigt. Weißt Du, ob der Film etwas ausgelöst hat?
Ich hoffe und denke schon. Leider erfahre ich das in den seltensten Fällen – und wenn nur zufällig. So habe ich zum Beispiel bei einer Party jemanden getroffen, der mir erzählt hat, dass er, nachdem er den Film gesehen hat, eine WhatsApp-Gruppe gegründet hat, in der die Mitglieder darüber informieren, wenn sie irgendwohin fahren, wo es gute Lebensmittel gibt. Ein anderes Beispiel ist ein Straßenfest, das jemand vor allem für die vielen „Zuagrasten“ während der Lockdowns organisiert hat, nachdem er „Rettet das Dorf“ gesehen hat (in dem 2020 erschienenen Dokumentarfilm zeigt Teresa neue Perspektiven sowie Potenziale auf und erzählt von Menschen, die mit ihren Ideen zu einer Entwicklung beitragen, die das Dorf weiterleben lässt; Anm.).

Welche Möglichkeiten gibt es denn, damit Filme mehr Wellen schlagen? Du machst unter anderem Filmbesprechungen im Anschluss.
Ja. Filmbesprechungen bieten tolle Gelegenheiten und es war und ist mir ein großes Anliegen neben den üblichen Fragen zum Film einen Raum zu bieten, wo die Menschen Dinge aussprechen können, die später eventuell aufgegriffen und weiterverfolgt werden. Dabei ist schon die Tatsache, dass man Filme physisch live an einem Ort anschaut, eine große Qualität des Kinofilms. Schaut man Filme nur mehr zuhause an, lässt man sich gewissermaßen die Chance entgehen, mit Gleichgesinnten zusammenzukommen, zu sehen, wen dieser Film in der eigenen Umgebung auch anspricht und möglicherweise im Anschluss ins Gespräch zu kommen.

Womit wir wieder beim kritischen Diskurs sind. Danke Dir, Teresa, dass wir hier einen solchen führen und vielleicht auch Mut und Lust auf Zukunft machen und inspirieren konnten.

 

Teresa Distelberger (© NGF)

Zur Person: Teresa Distelberger

… ist Filmemacherin mit Fokus auf Kurz- und Dokumentarfilme. 2017 kam der mit der ROMY 2018 als „Beste Kino-Doku“ ausgezeichnete Film „Die Zukunft ist besser als ihr Ruf“ in die Kinos, den sie gemeinsam mit Niko Mayr, Gabi Schweiger und Nicole Scherg realisierte. 2020 folgte mit „Rettet das Dorf“ (2020) der erste Langdokumentarfilm, den die Wahl-Wienerin als alleinige Regisseurin verantwortete. In Performances, Installationen und dialogische Kunsträume beschäftigt sich die Künstlerin außerdem mit ländlichen Traditionen, urbanen und globalen Lebenswelten, Gedenkkultur und einer vielschichtigen Interpretation des kontroversen Heimatbegriffs.
www.artofco.com

 

Du möchtest kein Gespräch von Christiane Mähr verpassen? Dann abonniere unseren NEWSLETTER.

Gestaltbarkeit,Im Gespräch mit...

Wenn wir im Film der Zukunft begegnen…

Filmemacherin Teresa Distelberger durfte schon als Kind erfahren, dass die Zukunft mehr Potenzial bietet, als man ihr zugesteht. Ein Gespräch über Gestaltungsmöglichkeiten des (künstlerischen) Tuns, warum Dokumentarfilme nicht dystopisch sein müssen und wieso wir sie im Kino anschauen sollten.

Die Politikverdrossenheit ist so groß wie nie zuvor und wird durch das Tun bzw. Nicht-Tun der Politik sogar befeuert. Wie sieht das der Bürgermeister einer 2.000-Seelen-Gemeinde im Bregenzerwald?
Grundsätzlich muss man unterscheiden, was für eine Form von Politik und auf welcher Ebene man diese betreibt. Meiner Meinung nach machen wir hier in Hittisau vor allem Gemeindearbeit und weniger Politik. Politikverdrossenheit wächst allerdings von ganz oben nach unten und somit ist sie auch bei uns in der Gemeinde zu spüren. Und es ist durchaus verständlich, dass die Bürger müde sind von der vorherrschenden Diskussionskultur in der Politik auf Bundes- und Landesebene. Andererseits muss man sagen, dass viele gar nicht mehr wissen, wie Demokratie funktioniert. Als ich zur Schule gegangen bin, gab es noch das Fach „Politische Bildung“. Diese Bildung vermisse ich inzwischen bei vielen Menschen.

Bei mir war es Teil des Geschichtsunterrichts und meinem Professor lag sehr daran, dieses Wissen zu vermitteln. Wir können hier keinen Crash-Kurs machen, aber was ist im Hinblick auf das demokratische Prinzip deiner Meinung nach entscheidend?
Demokratie setzt ein gewisses Sozialverhalten voraus. Mit dem Egoismus, den die Menschen heutzutage oft an den Tag legen, ist das leider nicht möglich. Nur über diejenigen zu schimpfen, die bereit sind, politische Verantwortung zu übernehmen, bringt uns nicht weiter. Gerade die Arbeit in einer Gemeinde umfasst unzählige Bereiche, die den Bürgern als selbstverständlich erscheinen, die aber dennoch erst einmal bewerkstelligt werden müssen. Und dafür braucht es im Vorfeld eben oft Entscheidungen in verschiedenen politischen Gremien in der Gemeindevertretung.
Mit zwei unabhängigen Fraktionen haben wir in Hittisau eine recht spezielle Konstellation. Und obwohl es nicht um Parteiinteressen geht, erleben wir immer wieder recht angespannte Situationen. Bei uns geht es immer darum, inhaltlich zu überzeugen und schlussendlich ein Miteinander zu finden. Das macht es nicht leicht, aber spannend. Von „kommunaler Intelligenz“ zu sprechen und dies auch zu verstehen sind zweierlei. Verantwortung für die Allgemeinheit und die nächsten Generationen zu übernehmen ist schlussendlich entscheidend. Eine große Persönlichkeit hat sinngemäß einmal erwähnt: Demokratie ist nicht die perfekte Staatsform, doch es gibt bis dato nichts Besseres.

Oder um es mit Winston Churchills Worten zu sagen: „Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“
Genau. Und hin und wieder braucht es auch in der Politik falsche Entscheidungen, daraus kann – oder könnte man lernen. Wenn der Mensch nie experimentiert hätte, würden wir heute noch auf allen Vieren laufen.

Entscheidungen – ob sie schlussendlich richtig oder falsch sind – hängen eng mit Gestaltungsmöglichkeiten zusammen. Wie viele hat ein Bürgermeister tatsächlich und mit welchen Grenzen hat man zu kämpfen?
Spannend, dass du von Grenzen sprichst. Ich selbst möchte nämlich Grenzen nie als solche akzeptieren. Oder sagen wir so: Natürlich gibt es Grenzen, aber dann muss man halt einen neuen Weg suchen. Und den gibt es immer. So, wie viele Wege nach Rom führen, führen viele Wege zur Umsetzung einer Vision. Das kann mühsam sein, doch es funktioniert. In den über sieben Jahren, in denen ich Bürgermeister von Hittisau bin, ist uns sehr viel gelungen, was wir uns als Vision gesetzt haben. Oft hat es länger gedauert, als wir dachten. Das Ziel haben wir dennoch meist erreicht.
Abgesehen davon bin ich überzeugt, dass die Welt nicht an den Grenzen einer Gemeinde aufhört. Soll heißen: Die Region ist wichtig, sie ist das Fundament für eine starke Gemeinde. Und im Bregenzerwald leben wir das sehr gut. Dadurch haben wir auch einen nicht zu verachtenden Einfluss, wenn uns doch mal Grenzen aufgezeigt werden wollen.

Ist das denn oft der Fall?
Nun, man muss schon sagen, dass die Überreglementierung zum Teil ein unerträgliches Ausmaß annimmt – um nicht zu sagen: wir verwalten uns zu Tode. Allerdings muss man dann halt mit den Verantwortlichen darüber reden und Gegenvorschläge unterbreiten. Schlussendlich haben wir viele Dinge erreicht, von denen wir im Vorfeld nicht einmal geträumt haben, sie umsetzen zu können.
Übrigens: Gerade im Hinblick auf gemeinwohlorientiere Angelegenheiten sind nicht alle Grenzen, die etwa vonseiten der Raumplanung oder des Naturschutzes gesetzt werden, lästig. Soll heißen: Wenn wir diese unglaubliche Kulturlandschaft erhalten wollen, die wir hier in Vorarlberg haben, dann müssen Einzelinteressen auch hin und wieder Grenzen gesetzt werden.

Ein Platz zum Nachdenken und Diskutieren: Denk.Mal (© Gemeinde Hittisau)

Du meinst, dass beispielsweise nicht mehr jeder ein Einfamilienhaus bauen darf.
Wir müssen uns die Frage erlauben, ob es noch zeitgemäß und sinnvoll ist, ein Einfamilienhaus zu bauen. Widmungsreserven lassen den Traum vom Einfamilienhaus nach wie vor zu, ob dies dem Sinne von sparsamem Umgang mit Grund und Boden entspricht, vor allem an die nächsten Generationen gedacht wird, sei dahingestellt. Die Basis unserer Lebensqualität ist nicht, dass wir gut und viel verdienen. Es ist eben unsere Kulturlandschaft und diese braucht Freiräume – sowohl in Form von freien Flächen, als auch als Dritte Orte. In Hittisau haben wir etwa den Platz „Denk.Mal“ geschaffen, der einerseits zum Nachdenken, anderseits zum Diskurs einladen soll. Es ist die Aufgabe der Bürgermeister und Gemeindevertreter, eine Basis für ein gutes Leben zu schaffen. Orte und Regionen mit guten Jobmöglichkeiten – vor allem für junge Familien und berufstätige Mütter –, besten Bildungseinrichtungen und einem guten Mobilitäts- und Konsumangebot. Bevor gebaut wird, muss die Infrastruktur vorhanden sein. Andernfalls haben wir „Schlaforte“, wo die Menschen nur schlafen, ansonsten aber keine Zeit verbringen können und wollen.

Ist es denn wünschenswert, dass eine Gemeinde ständig wächst?
Diese Frage können wir uns gar nicht stellen, denn es passiert sowieso. Zum einen gibt es noch viel Bauland, viel mindergenutzte Wohnflächen und Leerstand. Zum anderen haben wir eine entsprechende demografische Entwicklung und auch Zuwanderung. Im Hinblick auf Letztere braucht es allerdings Integration. Bei der Flüchtlingskrise 2015/2016 hat Hittisau vorarlbergweit im Verhältnis am meisten Flüchtlinge aufgenommen. Für uns war klar, dass wir alles tun müssen, die Menschen bestmöglich zu integrieren. Im Gegenzug braucht es selbstverständlich den Willen, sich zu integrieren. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, denn ich bin selbst ein „Zuagraster“. Selbst wenn ich nur aus Dornbirn gekommen bin, werde ich immer ein „Zwei-Heimischer“ bleiben und nie zum Einheimischen werden. Wäldar ka nüd jedar sin…

Sind von den damaligen Flüchtlingen auch viele „zwei-heimisch“ geworden?
Ja, etliche sind geblieben. Insbesondere die Jungen haben gute Ausbildungen absolviert und sind in der Gemeinde bzw. in den Vereinen gut integriert.

Du hast schon einige Aufgaben angesprochen, die künftig gemeistert werden müssen. Welche davon sind im Hinblick auf das Gemeinwohl am wichtigsten bzw. am dringendsten?
Ich bin davon überzeugt, dass es in unserer Verantwortung liegt, den Kindern ein gutes Umfeld und beste Bildungseinrichtungen mit den bestmöglichen Pädagogen bereit zu stellen. Genauso brauchen wir Einrichtungen, in denen die Menschen in Würde alt werden können. Und das alles muss allen Menschen zur Verfügung stehen, egal aus welchen Strukturen sie kommen. Niemand darf auf der Strecke bleiben. Jede Familie muss die Möglichkeit haben, ihr Kind bzw. ihre Kinder so früh wie möglich in die die „Spielgruppe“ bzw. Kleinkindbetreuungseinrichtung zu bringen, sodass sie möglichst früh, Sozialkompetenz erlernen können. Das nämlich ist die Basis, damit sie zu Menschen heranwachsen, die Verantwortung für sich und ihre Mitmenschen übernehmen. Exzellente Bildung kann Motivation und Freude erzeugen.

Vielen Dank, Gerhard. Schön, dass es Bürgermeister wie dich noch gibt.

 

Zur Person: Gerhard Beer

…ist parteifreier Bürgermeister von Hittisau und leidenschaftlicher Gastwirt im Betrieb seiner Frau Daniela. Der gelernte Kaufmann stammt eigentlich aus Dornbirn, wo er als Bediensteter im Rathaus erste Erfahrungen in der Kommunalarbeit sammelte. In die Politik wollte er trotzdem – zumindest nicht sofort. Der Liebe wegen zog er nach Hittisau, wurde Gemeindesekretär und -kassier, übernahm Leitungsfunktionen in verschiedenen Pflegeheimen, war Filialeiter einer regionalen Bankstelle und verkaufte außerdem in Deutschland – vorwiegend in Berlin – als selbstständiger Handelstreibender Lebensmittelspezialitäten aus dem Bregenzerwald. Anfang der 2000er-Jahre rückte der Vater von zwei mittlerweile jungen erwachsenen Kindern aufgrund eines Todesfalls in die Gemeindevertretung nach, blieb dort ein knappes Jahrzehnt, legte dann eine – Zitat – „politische Schaffenspause“ ein, bevor er 2015 von der Gemeindevertretung zum Bürgermeister gewählt wurde.
www.hittisau.at

 

Du möchtest kein Gespräch von Christiane Mähr verpassen? Dann abonniere unseren NEWSLETTER.

Gestaltbarkeit,Im Gespräch mit...

Ein Bürgermeister kennt keine Grenzen

Gerhard Beer ist Bürgermeister von Hittisau im Bregenzerwald (A). Er versteht, warum die Menschen politikmüde sind – doch: jammern bringe uns auch nicht weiter. Ein Gespräch über Verantwortung und Sozialkompetenz, zu überwindende Grenzen und warum jedes Kind in die „Spielgruppe“ gehen sollte.

Gastkommentare sind Beiträge, die nicht aus der Redaktion von Zukunft Neu Denken entspringen.

 

80 Essays hat Gerhard M. Buurman zwischen April und August 2020 geschrieben, an seine Studierenden verschickt und diese nun in einem Tagebuch veröffentlicht. Sie spiegeln die Erfahrungen der ersten Corona-Welle wider, als plötzlich alles ganz anders war. Die drei Essays, die uns der Autor hier zur Verfügung stellt, geben einen kleinen Einblick und Vorgeschmack auf Texte, die der grundsätzlicheren Neugierde folgen, mit welchem Interesse, welcher Legitimation und mit welchen Folgen der Mensch in seine Welten eingreift, sie umbaut und verändert.
Das Buch ist über Apple Books erhältlich.

 

Derealisation

Karlheinz Stockhausen schrieb 1972 über „Neue Musik“: „(…) dieses kontinuierliche Übergehen von einer Perspektive in eine andere während ein- und desselben Stückes: das ist eigentlich das Thema des Komponierens geworden. Nicht mehr irgendetwas anderes zu komponieren oder darzustellen oder zu exemplifizieren oder zu konstruieren, sondern die Transformationsmöglichkeiten der Klangmaterie sind das Thema selbst.“ Wir haben unsere Welt in einen großen, modularen Möglichkeitsraum zerlegt und denken viel darüber nach, wie wir die Teile „neu“, „besser“, „lukrativer“, „nützlicher“ zusammensetzen können (allg.). Folgende Eskalation schlage ich vor:
Assoziation: Wir bringen Dinge miteinander in eine produktive und alltägliche Verbindung;
Bisoziation: Wir bringen Dinge miteinander in eine ganz neue Verbindung und stellen neue Zusammenhänge her (technisch, kulturell);
Dissoziation: Unsere Wahrnehmung ist gestört, neurologische und kognitive Funktion fallen aus.

Das sind ja ganz neue Regeln

Seit jeher untersucht der Mensch seine Natur, findet Gesetzmäßigkeiten, wendet sie an, variiert und permutiert sie. Dieser infinite Prozess der Selbst- und Fremdentwicklung (Poiesis resp. Autopoiesis) ist eine Art exponentielle Fortschrittsfunktion. Wenn wir über die Gestaltung von Zukünften sprechen (1. Zukunft des Menschen, 2. Zukunft für den Menschen, 3. Zukunft trotz des Menschen), dann sollten wir jene Gestaltungsmethoden genauer studieren, die eine moderierende Wirkung auf unsere viel zu anwendungsorientierte Phantasie ausüben. Vorzuschlagen sei hier nicht der Algorithmus (Regelsystem I), das Gesetz (Regelsystem Il) oder der Verzicht (Regelsystem II).
Schon gar nicht rede ich von der schnellen und vielleicht manchmal auch schmuddeligen Praxis. Dehnen wir unsere Erwartungen doch aus und konzentrieren uns auf die Frage, wie wir zu ganz neuen Regeln kommen können. Eine Publikation des Zentrums für Kunst und Medien in Karlsruhe dokumentiert die Forschungen des Komponisten und Architekten lannis Xenakis, der für seine „stochastische Musik“ die Spiel- und die Zahlentheorie nutzte. Heute „klingt“ uns dieses Prinzip sehr vertraut. „Spieltheorie“, ein passendes Wort in diesem Zusammenhang!

Nur durch Himmelskarten können Erdkarten gemacht werden; nur durch den Standpunkt von oben herab entsteht uns eine ganze Himmelskugel, und die Erdkugel selber wird zwar klein, aber rund und glänzend darin schwimmen.
Jean Paul, Vorschule der Ästhetik

Das Blaue vom Himmel

(…) Die Verhältnisse scheinen kompliziert, seltsam, unordentlich. Darum mögen wir getrost und in professioneller Weise kompliziert und unordentlich aber immer umsichtig vorgehen. Sollte es uns hier und da gelingen, in all der Unordnung eine neue, bessere Ordnung zu erkennen, ist genau das die Hoffnung. Sprechen wir nicht von „gut“ oder „schlecht“ und geben wir nicht immer gleich vor, die Welt zu reparieren. Je mehr wir wissen und können, desto enger werden wohl auch die Grenzen des Erträglichen.

 

 

Über den Autor…

Prof. Dr. Gerhard M. Buurman ist Designer und Kulturwissenschaftler. Von 2001 bis 2017 unterrichtete er an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich, wo er unter anderem die Studienbereiche Interaction Design und Game-Design gründete, den Aufbau des Swiss Design Institute for Finance and Banking initiierte und das Institut für Designforschung leitete. Heute arbeitet der Konstanzer mit seinem Institut für Denkformen einmal mehr an der Schnittstelle von Design und Ökonomie. Gerhard M. Buurman ist außerdem Teil des Zukunftsrates von Zukunft Neu Denken.

www.postmodular.de

 

Du möchtest keinen Gastkommentar mehr verpassen? Dann abonniere unseren NEWSLETTER.

Gastkommentar,Gestaltbarkeit

Von der Derealisation bis zum blauen Himmel

Gerhard M. Buurman lässt uns einmal mehr an seinen Gedanken teilhaben und schreibt über Derealisation, neue Regeln und das Blaue vom Himmel.

Die Luftfahrt befindet sich im Umbruch. Für Branche und deren Mitarbeiter ist das an sich nichts Neues bzw. Abnormales. Vielmehr werde einem bereits während der Ausbildung klar vermittelt: „Es braucht Durchhaltevermögen, da es im Airline-Business immer wieder Phasen des Stillstands gibt. Da muss man durchtauchen, denn der nächste Aufschwung kommt bestimmt. Zumindest war das bis vor Corona der Fall“, weiß Michael Marchetti, Pilot und zuletzt Kapitän von Businessjets, mit denen er Prominente, Politiker, Geschäftsleute und einmal sogar einen einzelnen Anzug rund um die Welt flog. Die Pandemie hat die Branche jedoch nachhaltig verändert: Massenkündigungen, die bis heute nachwirken und zu psychischen Belastungen, wenn nicht sogar Selbstmorden geführt haben. Beinharte Preiskämpfe durch die Billig-Airlines, die den Fluggästen zwar günstige Tickets bescheren, aber auch am Image der Fliegerei kratzen und dazu führen, dass das Personal chronisch unterbezahlt ist. „Die Menschen sind frustriert, weil sich die Bedingungen in den Keller entwickelt haben. Nicht nur die Ausbildung muss man sich selbst finanzieren, bei vielen Billiganbietern muss die Crew die Verpflegung selbst mitnehmen oder sich ihre Uniformen selbst kaufen. Piloten sind vielfach nicht mehr angestellt, sondern selbstständige Unternehmer, die sich ihre Brötchen hart verdienen müssen. Am Sager ‚Das teuerste Ticket hat immer der Co-Pilot‘ ist vor allem bei Billig-Airlines etwas Wahres dran“, konstatiert Michael.

What makes you feel alive?

Für den studierten Philosophen und ehemaligen Journalisten, der erst mit 30 Jahren seine Karriere als Pilot startete, war Corona ebenfalls ein Wendepunkt – oder wie er sagt: „Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“ Schon zuvor hat der Vater von zwei erwachsenen Töchtern seinen Job von Zeit zu Zeit kritisch hinterfragt. Die Leidenschaft für das Fliegen habe aber stets überwogen – bis zu jenem Abend Anfang April 2020, als er zwei, drei Wochen nach Beginn des ersten Lockdowns in seinem Garten ein Lagerfeuer machte, in den Sternenhimmel blickte und ebendort eine endlos scheinende Kette von Space X-Satelliten sah: „Da ist mir der Mund offengeblieben, da mir bewusst wurde: Das ist erst der Anfang. Elon Musk möchte ja 30.000 derartige Satelliten ins All schießen; 1.800 hat er schon oben. Das ist völlig irre und ich habe mich gefragt: Ist das wirklich unsere Zukunft? Ist das gut und richtig, was wir hier tun – in meinem Fall Menschen in Privatjets herumzufliegen? In dem Moment war mir klar: Das ist meine Chance, die Dinge anders zu machen.“
Drei Monate später hat Michael gekündigt, ohne zu wissen, was er künftig machen wird. Erst ein weiteres halbes Jahr später hatte er nach einem Telefonat mit Transformationsforscher Jens Hollmann eine Idee davon, wohin die Reise gehen könnte: „Ich habe schon mehrmals im Leben neu angefangen und Dinge losgelassen, um zu schauen, was kommt und wo es mich hinzieht. Diese Suche nach dem ‚what makes you come alive‘ gepaart mit einem Grundvertrauen hat mich jedes Mal noch näher zu mir selbst gebracht.“
Und genau das wollte Michael Marchetti weitergeben. So wurde aus der theoretischen Idee einer Art „AMS für Piloten“ schlussendlich OneEightZero: ein Transformationsprogramm für Piloten, Flight Attendants, aber auch Airlines. „Die Flugbranche ist so unberechenbar wie nie zuvor. Umso wichtiger ist es, den Sinn im Leben zu finden und sich – wie etwa dem japanischen Ikigai-Modell entsprechend – zu fragen: Was liebe ich? Worin bin ich gut? Wofür werde ich bezahlt? Und last but not least: Was braucht die Welt? ‚Return to yourself‘ sozusagen. In der Fliegerei sprechen wir bei einer Umkehrkurve von einem one eight zero-turn. Und genau das ist es, was wir hier machen: Eine 180 Grad-Wende, bei der man den Blick auf sein Inneres richtet und dann Schritt für Schritt seine persönliche Zukunft findet und gestaltet“, so Michael.

OneEightZero: Ready to take off

Seit Mitte März 2022 ist OneEightZero am Start. Sieben Wochen lang durchlaufen die Teilnehmer spielerisch eine virtuelle Weltreise zu sich selbst. Im Rahmen von Videobeiträgen, Podcasts, Potenzialanalysen, Tasks, Tests, Zoom Calls und Coachings geben internationale Experten ihr Wissen zu Zukunftsthemen, Storytelling, Selbstführung und Leadership, Mindset und anderes mehr preis. „Am Ende weiß man, wer man ist, wo man steht und wohin man möchte. Dabei muss nicht jeder seinen Job als Pilot oder Flight Attendant aufgeben“, betont Michael. „Vielmehr geht es darum, Möglichkeiten aufzuzeigen. Manche brauchen einfach nur einen Plan B, der ihnen längerfristig als Option dienen und somit Sicherheit geben oder in Kombination mit der Fliegerei angegangen werden kann.“ Fliegen ist freilich für viele ein Traumberuf, von dem man schon als kleines Kind geträumt hat. Und das macht es auch so schwer, weiß der 49-Jährige:

„Manche glauben, nur in diesem Beruf glücklich zu werden – schließlich haben sie sich ihren Traum erfüllt. Für viele bricht also eine Welt zusammen, wenn sie nicht mehr fliegen können. Es ist fast so, als würde die Daseinsberechtigung abhandenkommen. Bei OneEightZero lernen die Teilnehmer, dass es auch andere Dinge gibt, die sie gerne und gut machen und worin sie Erfüllung finden können.“

Reise-Experiment

OneEightZero ist wie ein Experimentierraum – oder besser gesagt eine experimentelle Reise, die es einem ermöglicht, nach der Rückkehr rasch zu reagieren, wenn sich wieder etwas ändert. Und das ist wichtiger denn je, schließlich wird uns Corona mit all seinen Auswirkungen noch (etwas) länger erhalten bleiben. Der Krieg in der Ukraine, die Klimakrise und zahlreiche andere globale Entwicklungen machen zudem deutlich, dass sich die Welt verändert – und zwar rasanter als viele von uns denken.
Dass sich nicht nur die Welt, sondern eben auch die Flugbranche im Wandel befindet, wurde schon eingangs erwähnt. Stellt sich die Frage: Wie schaut dieser aus? Und vor allem: Wie nachhaltig und umweltfreundlich ist er? Laut Michael Marchetti ist man sich bei den Airlines durchaus darüber im Klaren, dass es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann: „Auf Managementebene werden Überlegungen hinsichtlich Umstrukturierungen angestellt. Das Problem aber ist, dass die Flotten meist aus veralteten Flugzeugen bestehen, die wesentlich mehr Sprit verbrauchen als neue Maschinen. Am Ende des Tages sind die Alltagsprobleme allerdings meist größer und die finanziellen Mittel reichen nicht aus, um auf Maschinen umzurüsten, die umwelttechnisch besser abschneiden.“
Letzteres wäre freilich wichtig, ist doch Fliegen klimatechnisch ein großes Problem. Eine Thematik, über die sich das Flugpersonal zwar Gedanken mache, die viele jedoch verdrängen oder Gegenargumente finden. Für Michael verständlich: „Wer sich mit dieser Problematik genauer beschäftigt, stellt ja gleichzeitig sein eigenes Tun in Frage.“

Ein besonderes Zukunftsbild

Er selbst hat das getan und nicht nur den Job gekündigt, sondern sich außerdem Gedanken über ein nachhaltiges Zukunftsbild für die Luftfahrt gemacht. Geht es nach dem OneEightZero-Gründer müssen Flugreisen wieder zu Luxusgütern werden – so wie sie es bis in die 1990er-Jahre der Fall war. Dieses Rückbesinnen brauche es sowohl bei den Airlines, als auch vonseiten der Passagiere: „Ich möchte die Fliegerei gar nicht verbieten, denn sie bringt Menschen und Kontinente zusammen. Doch sie muss nachhaltig und zukunftsfähig werden. Einerseits durch neue, grünere Flieger. Andererseits aber vor allem durch eine Abkehr vom Billig-Image. Außerdem bräuchte es eine Reduktion der Masse. Die Menschen sollten sich überlegen, wann und wohin sie fliegen. Man sollte länger an dem Ort bzw. in der Region bleiben, Land und Leute kennenlernen, vielleicht sogar dort arbeiten. Fliegen muss wieder etwas Spezielles, etwas Besonderes werden, sodass die Menschen bereit sind, einen angemessenen Preis dafür zu bezahlen. Und dann wird es auch den Crews wieder besser gehen.“
Michael Marchetti hat vor über zwei Jahren eine Reise angetreten, mit der er nicht nur sein eigenes Leben einmal mehr komplett gedreht hat, sondern auch dazu beitragen wird, dass viele seiner ehemaligen Kollegen einen Transformationsprozess zu sich selbst durchlaufen können. Er allein wird die Welt der Fliegerei nicht verändern. Doch mit OneEightZero zeigen er und sein Team auf, was möglich ist.

 

 

Zur Person: Michael Marchetti

… Michael Marchetti wurde 1973 in Österreich geboren, studierte Geschichte, Philosophie und Literatur in Wien und Santiago de Chile, war in den 1990er-Jahre als Journalist für internationale Zeitungen, Radio- und Fernsehsender tätig und jobbte rund um die Jahrtausendwende zwei Jahre als Tauchlehrer in Mexiko und Kenia. Im Alter von 30 Jahren begann er eine neue Karriere als Pilot und wurde Kapitän von Businessjets, mit denen er Prominente, Politiker und Geschäftsleute flog. Michael ist mit der ehemaligen Nachrichtenmoderatorin und Psychotherapeutin Tiba Marchetti verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Töchtern und Naturliebhaber.
www.oneeightzero.org

 

Du möchtest keinen Artikel von Christiane Mähr verpassen? Dann abonniere unseren NEWSLETTER.

Good News,Transformation

OneEightZero: Zeit für eine Wende

Michael Marchetti hat seinen Pilotenjob an den Nagel gehängt – nicht nur um selbst eine 180-Grad-Wende zu vollziehen, sondern auch um mit OneEightZero° ehemalige Kollegen bei einer möglichen Transformation zu unterstützen. Ein Zukunftsbild für die Flugbranche hat er ebenfalls mit im Gepäck.

Wir sind bei Zukunft Neu Denken immer per Du. Da ihre Zeit eng bemessen ist, haben wir im Vorfeld noch nicht gesprochen, daher fange ich das Gespräch mit der Frage an: Darf ich dem Oberbürgermeister von Wuppertal das Du anbieten?
Ja klar.

Schön, dann legen wir los: Es tut sich viel in der mit rund 365.000 Einwohnern größten Stadt des Bergischen Landes. Eben erst haben sich die Wuppertaler dafür entschieden, dass sich die Stadt für die Bundesgartenschau, kurz BUGA 2031 bewirbt. Abgesehen davon, dass der Entscheid ein Erfolg für sich war: Was bedeutet das für die Zukunft der Stadt?
Es war wirklich eine Freude mitzuerleben, wie sich ein breites Bündnis aus unterschiedlichsten Unterstützern dafür stark gemacht hat, dass das Anliegen der Bürgerinitiative „BUGA – so nicht“ abgelehnt wurde. Auch weil die BUGA keine Blümchenschau ist, bei der wir ein halbes Jahr schöne Veranstaltungen inszenieren. Vielmehr stehen dahinter viele Ideen, die wie ein Kompass für die Stadt selbst dienen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die BUGA 2031 soll die erste ohne zusätzliche Parkplätze werden. Sprich: Die Besucher werden hauptsächlich über den öffentlichen Nahverkehr anreisen oder das Radwegenetz nutzen, das bislang aber noch unzureichend ausgebaut ist. Entsprechend gilt es, bis 2031 eine Fahrradkultur zu etablieren und/oder die Menschen dazu zu bringen, vermehrt auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Die BUGA bietet die Chance, die Stadt in Richtung Nachhaltigkeit, neue Mobilität, Kreislaufwirtschaft und auch Bürgerbeteiligungen zu entwickeln.

Die Bürgerinitiative gegen die BUGA hat euch also nicht „abgeschreckt“, die Bürger noch mehr einzubinden?
Ganz und gar nicht. Der Entscheid für die BUGA wurde uns zwar in gewisser Weise aufgezwungen. Im Nachhinein sind wir aber sogar dankbar dafür, denn dadurch ist eine tolle Aufklärungskampagne entstanden. Zudem muss gesagt werden, dass solche Bürgerentscheide im Normalfall negativ ausgehen. Dass das in Wuppertal nicht der Fall war und sich die Menschen für die BUGA entschieden haben, ist schon ein Ausrufezeichen – auch wenn es mit 51,8 Prozent ein recht knappes war. Nichtsdestotrotz konnten wir die Mehrheit überzeugen, dass es Sinn macht, auf so ein Zukunftsprojekt zu setzen.

Und es ist wirklich ein Zukunftsprojekt, schließlich findet die BUGA erst in neun Jahren statt. Ein Zeitraum, der für viele gar nicht „greifbar“ ist.
Natürlich sind neun Jahre eine lange Zeit und für manche Bereiche mag das auch zutreffen. Doch bei Verkehrsprojekten beispielsweise sind neun Jahre gar nichts. Hier müssen wir schleunigst die Weichen stellen, um Ressourcen und Kapazitäten entsprechend vorzusehen. Auch in der Verwaltung stehen unendlich viele Dinge an. Das Gute ist, dass wir mit der BUGA ein festes Datum haben. Was in einer Stadt zu tun ist, welche Dinge angegangen werden müssen, ist meist klar. Jedoch verschieben sich Projekte immer wieder, weil sie schlichtweg vom Alltag überrollt werden. Wir aber wissen jetzt, dass 2031 zwei Millionen Menschen nach Wuppertal kommen werden. Und wir müssen heute entscheiden, was dafür zu tun ist. Umso besser, dass seit dem Entscheid für die BUGA eine ganz andere, eine positive Grundspannung herrscht.

Du bist seit November 2020 Oberbürgermeister von Wuppertal. Mit dem Zukunftsprogramm #Fokus_Wuppertal war von Beginn an klar, dass Du etwas bewegen möchtest. Warum dieser Fokus auf die Zukunft und was steckt dahinter?
Für mich war klar, dass ich alles daransetzen werde, die Ansagen, die ich im Wahlkampf gemacht habe, auch umzusetzen und mich dabei nicht von den Anforderungen des täglichen Handels überrollen zu lassen – lokale Politik ist im Normalmodus nämlich oft sehr reaktiv. Daher haben wir am Anfang der Amtsperiode acht Bereiche – darunter Themenfelder wie Klimaneutralität, eine innovative und nachhaltige Mobilitätsstrategie oder die Vernetzung der Bildungs- und Forschungsinfrastruktur – in ein Zukunftsprogramm mit klaren Zielvorstellungen übersetzt. Dieses dient nun als Kompass und bietet den Menschen Orientierung – und zwar den Bürgern genauso wie der Verwaltung. Außerdem haben wir uns verpflichtet, jedes Jahr Rechenschaft darüber abzulegen, wo wir welche Schritte gesetzt haben, wo wir weitergekommen sind und was nicht geklappt hat. So merken die Menschen, dass sich etwas verändert und vieles nicht so schlecht läuft, wie es manchmal angesichts alltäglicher Probleme scheint.

Die Menschen haben sich irgendwie angewöhnt, das Negative in den Fokus zu stellen.
Das stimmt leider. Meiner Meinung nach hat das viel mit einer weitentwickelten Wohlstandsgesellschaft zu tun, in der wir leben. Man hat das Gefühl, dass viele Menschen nach vorne hin nichts zu gewinnen haben, sondern immer nur darauf achten, was sie alles verlieren können.

Du warst viele Jahre im universitären und damit eher im wissenschaftlich-theoretischen Bereich tätig. Als Oberbürgermeister gibt es wohl nur mehr Praxis. Wie geht man damit um?
Auch als Wissenschaftler habe ich ja schon sehr praxis- und politiknah gearbeitet. Nun aber stehe ich permanent im Rampenlicht und bin zudem emotionale Projektionsfläche für viele Menschen. Gerade in der Anfangsphase war das durchaus eine Herausforderung, für die ich auch Coping-Strategien entwickeln musste. Vom Kopf her weiß man das, aber wenn man dann tatsächlich damit konfrontiert wird, ist das etwas ganz anderes. Es ist auch eine totale Konfrontation mit sich selbst. Die Bürger kennen dich schlussendlich besser als du dich selbst.

…zumindest glauben sie das.
Na ja, das Reagieren auf Fremdbeobachtungen hat ja auch mit dem Bedürfnis zu tun, gemocht zu werden. Bei Angriffen, die in diesem Job mitunter in voller Brutalität auf einen zukommen, stellt man sich natürlich oft die Frage: Warum trifft mich dieser Kommentar, diese Attacke so sehr? Im Vergleich zu anderen Jobs kann man sich als Oberbürgermeister einer ständigen und umfassenden Beobachtung und Bewertung nicht entziehen. Also muss man sich intensiv mit sich selbst auseinandersetzen.
Ein wichtiger Stabilisationsfaktor für mich ist, mir immer wieder klarzumachen, dass es eine selbstgewählte Reise ist, an der man kontinuierlich wachsen muss, um sie erfolgreich auszufüllen. Hilfreich ist dabei übrigens das Bild des Energiefasses: Wo und wie kommt Energie oben hinein? Und wo sind Lecks und wie kann man das diese schließen? Eine sehr kraftvolle Vorstellung. Der Respekt vor all denen, die so einen Job über viele Jahre machen, ist jedenfalls unendlich gestiegen.

Du beschäftigst dich schon lange damit, wie sich Gesellschaften verändern, und hast 2018 das Buch „Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels“ veröffentlicht. Was braucht es denn, damit eine Gesellschaft zukunftsfähig wird?
Die Grundbotschaft des Buches ist die Zukunftskunst und, dass ein Veränderungsprozess nur dann funktionieren kann, wenn er mit Kreativität und positiver Energie angegangen wird. Außerdem braucht es immer eine kritische Masse an Menschen, die diese Veränderung in sich tragen und dadurch eine Dynamik auslösen. Städte sind in der Hinsicht ein spannendes Feld, weil sie oft reich an avantgardistischen Strömungen und Transformation sind. Allerdings kann sich positive Energie nur verbreiten, wenn das Kreative, das Lustvolle überwiegt. Nur so entstehen Räume, die andere mitnehmen können. Im Bereich der Forschung und Entwicklung, aber auch im Unternehmerischen etwa haben wir das oft; im Politisch-Institutionellen nur sehr selten bis gar nicht.

Das versuchst Du nun ja zu ändern.
Das Wissen aus dem Buch ist für mich wie ein Kompass. Gleichzeitig merke ich, wie herausfordernd es in der Praxis tatsächlich ist. Die Kraft bestehender Routinen kann derartige Möglichkeitsräume abtöten – ebenso wie negative Energien. Da gilt es, Tag für Tag dagegen anzukämpfen und Inseln guter Zukunftsenergien zu schaffen. In Wuppertal funktioniert das über ein fantastisches Netz an zukunftsaffinen Mitwirkenden. Hier haben wir die kritische Masse, die auch immer wieder mein Energiefass füllt. Ob es sich aber tatsächlich bestätigt, dass man allein mir Kreativität und positiver Energie alles bewegen kann, wird sich erst zeigen. Das Experiment läuft also noch.

Stoff für das nächste Buch?
Warum nicht? Denn selbst wenn es am Ende, aus welchen Gründen auch immer, scheitern sollte, wäre es sinnvoll ein Buch darüber schreiben, damit andere daraus etwas lernen können.

Stimmt, obwohl wir vom Scheitern nicht ausgehen. Vielmehr sind wir gespannt, was sich in Wuppertal in kommenden Jahren tut. Danke, dass du dir die Zeit für dieses inspirierende Gespräch genommen hast, Uwe.

 

 

Zur Person: Uwe Schneidewind

…ist seit November 2020 Oberbürgermeister der bergischen Großstadt Wuppertal (Nordrhein-Westfalen). Zuvor war der Wissenschaftler und Autor, der überdies zu den 100 einflussreichsten Ökonomen Deutschlands gezählt wird, unter anderem Dekan und Präsident der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sowie zuletzt zehn Jahre Präsident des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt, Energie.

Du möchtest kein Gespräch mit Christiane Mähr verpassen? Dann abonniere unseren NEWSLETTER.

Im Gespräch mit...,Transformation

Blumen für Wuppertal: Eine Stadt macht Zukunft

Oberbürgermeister Uwe Schneidewind erklärt, warum die BUGA 2031 für Wuppertal ein Zukunftsprojekt ist und keine Blümchenschau. Außerdem sprechen wir darüber, wie der politische Quereinsteiger seinen Job angeht und was eine Gesellschaft zukunftsfähig macht.

Transformation ist in aller Munde, im Prinzip aber ein alter Schuh. Eine Tatsache, die dem Gebot der Stunde – nämlich, dass wir einen per definitionem fundamentalen und dauerhaften Wandel benötigen – freilich keinen Abbruch tut. Im Gegenteil: Wir müssen uns schleunigst aufmachen. Insbesondere, wenn Transformation als Prozess der Veränderung von einem aktuellen Ist- zu einem angestrebten Ziel-Zustand verstanden wird. Schließlich deutet schon das Wort „Prozess“ darauf hin, dass das eben nicht von heute auf morgen passiert, sondern mitunter irrsinnig langwierig vonstatten geht.

Einfach (zu) schnell

In dem Zusammenhang aber müssen wir uns fragen, ob wir inmitten einer VUCA-Welt überhaupt die Zeit haben, uns in aller Ruhe zu verändern. Eine derart volatile, unsichere, komplexe und ambigue, also mehrdeutigen Welt kann uns nämlich rasch um die Ohren fliegen, während wir uns gemächlich einem Wandel unterziehen. Es sei denn, wir verstehen die Transformation selbst als anhaltenden und dauerhaften Prozess. Dann werden wir in gewisser Weise selbst zu VUCA-Wesen – Bumblebee, Jazz, Ironhide, Ratchet und Co. lassen grüßen. Ob wir uns nun sprunghaft und sozusagen mal eben auf die Schnelle verändern, den Wandel zur Normalität werden lassen oder zuerst das eine und dann das andere, ist der Zukunft allerdings komplett egal. Die nämlich behält ihr Tempo bei, das sie seit einigen Jahren an den Tag legt. Und wie das halt so ist:

Hat man erst einmal an Fahrt aufgenommen, steigt man nur ungern vom Gas. Die Welt von (Über-)Morgen gestaltet sich in der Hinsicht nicht anders.

Für uns heißt das jedoch: Wollen wir mit der Zukunft Schritt halten, müssen wir uns beeilen. Ansonsten laufen wir Gefahr, entweder ungebremst in die nächste Wand zu knallen oder – sofern wir versuchen, das Tempo zu drosseln – sozusagen in bester „Speed“-Manier uns selbst in die Luft zu jagen.
Was also gilt es zu tun, damit wir morgen nicht die Hauptrolle im eigenen Science-Fiction-Movie oder Action-Thriller spielen? Wie können wir der Welt von (Über-)Morgen begegnen? Indem wir erst einmal das eigene Denken verändern. Die Antwort ist so einfach, dass man ihr eigentlich gar nicht Glauben schenken möchte. Und ganz so easy ist es eh nicht, schon alleine, weil wir Menschen Gewohnheitstiere sind.

Gewöhnliche Höhle

Dass Veränderung aber in erster Linie im Kopf stattfindet oder zumindest dort ihren Anfang nimmt, wussten schon die antiken Philosophen – womit wir wieder beim „alten Transformationsschuh“ wären. Das Höhlengleichnis, das Sokrates seinem Schüler Platon erzählte, der es wiederum im siebten Buch der Politeia niederschrieb, wird immer wieder gern herangezogen. So auch an dieser Stelle, obwohl es ursprünglich die Notwendigkeit verdeutlichte, warum wir uns auf einen philosophischen Bildungsweg begeben sollen, um uns schließlich aus der sinnlich wahrnehmbaren Welt der vergänglichen Dinge zu befreien und in eine rein geistige Welt des unwandelbaren Seins einzutreten. Letzteres scheint in einer VUCA-Welt von vornherein unmöglich – insbesondere, wenn man den Wandel als stetigen Prozess versteht. Dennoch macht es Sinn, sich mal kurz in Sokrates‘ Höhle zu begeben.
Viele, die dort verharren, tun das nämlich aus Gewohnheit. Das Neue ist – nomen est omen – neu und daher gewöhnungsbedürftig. Mit dem Alten kennen wir uns aus und fühlen uns wohl. Wir wissen, was zu tun ist, was wir von diesem halten oder wie wir auf jenes reagieren sollen, ganz egal, ob es sich dabei um vermeintlich falsche Abbildungen handelt oder nicht. Diejenigen, die es doch wagen, sich aus der Komfortzone zu begeben und sozusagen vom Dunkeln der Höhle ins Licht zu steigen, werden im ersten Moment geblendet. Dass ist weder angenehm noch erstrebenswert – zumindest auf den ersten Blick. Allerdings können wir uns auf diesen blinden Fleck vorbereiten und zwar schlichtweg indem wir ihn erwarten. Ganz nach dem Motto: Be prepared for the unexpected!

Dodo und die Komfortzone

Die Frage ist: Wagt man den Aufstieg oder nicht? Bei dieser Entscheidung kann es helfen, sich mal mit sich selbst eingehend zu unterhalten. Klingt schizophren, ist es aber nicht! Vielmehr führen wir ständig innere Monologe. Wer es nun schafft, daraus einen inneren Diskurs bei vollem Bewusstsein zu machen, tut einen entscheidenden Schritt in Richtung Selbstreflexion, Planung und Problemlösung. Oder eben: Raus aus der Höhle, rein in die Zukunft.
Im Übrigen ist auch das nichts Neues, schließlich werden wir von klein auf angehalten, wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen. Schwierig wird das allerdings, wenn man gleichzeitig klein gehalten wird. Müssen wir beispielsweise essen, was auf den Teller kommt, werden wir nie erfahren, über den Tellerrand hinauszuschauen. Anderes Beispiel: Müssen wir stets unser Bestes geben, werden wir nie aus Fehlern lernen. Die Folge ist immer dieselbe: Wir verharren im inneren Monolog, ziehen uns ins ach so bequeme Schneckenhaus zurück und werden zu Dodos. Das Wappentier von Mauritius ist oder vielmehr war ein Vogel, der verlernt hat zu fliegen. Er nistete auf dem Boden und ernährte sich von vergorenen Früchten. Und dann kamen die Holländer und mit ihnen Ratten, verwilderte Haustiere, Schweine und Affen – der Anfang von Dodos Ende.
Der Mensch in seiner Komfortzone hat in gewisser Weise auch verlernt zu fliegen, verharrt in seinem feinen Nest bzw. in seiner kuscheligen Höhle, sprüht definitiv nicht vor neuen Ideen und macht sich nur mehr selten Gedanken – schon gar nicht über die Welt von (Über-)Morgen. In so einem Zustand rückt Veränderung in weite Ferne. Zum Glück aber ist es jederzeit möglich, einen anderen, einen neuen Weg einzuschlagen.

Let’s talk future

Und aller Anfang ist gar nicht so schwer, denn er passiert im eigenen Denken. Mit Blick in die Zukunft muss Transformation schlussendlich jedoch größer angegangen werden. Nur wenn wir uns als Gesellschaft verändern, den Wandel sozusagen als Teil unserer Kultur etablieren, werden wir der Welt von (Über-)Morgen tatsächlich begegnen können. Oder um einmal mehr das Höhlengleichnis heranzuziehen:

Jeder von uns vollzieht den Aufstieg aus der Höhle für sich. Doch wenn wir dabei von anderen unterstützt werden, es zu einem gemeinschaftlichen Bemühen machen, geht es nicht nur einfacher, sondern wird auch wesentlich nachhaltiger sein.

Wir können die Menschen um uns herum nicht ändern – und schon gar nicht globale Konzerne, die seit Jahren nur auf Profit, Absatz- und Gewinnsteigerung ausgelegt sind. Dass dabei Mensch, Umwelt und unser aller Zukunft ausgebeutet wird, ist ihnen herzlich egal. Um aber nicht in der dystopisch anmutenden Realität zu verharren, braucht es ein Umdenken, das beim Einzelnen beginnt. Und wenn wir erst einmal eine Transformation hingelegt haben, können wir gar nicht mehr damit aufhören. Dann werden wir anders denken und leben, nachhaltiger konsumieren und uns gesünder ernähren. Dann werden wir andere unweigerlich anstecken. Worauf also warten wir eigentlich? Machen wir uns gleich heute mit Vollgas auf, die Welt von Morgen so zu gestalten, dass wir ein im positivsten Sinne utopisches Übermorgen erleben. Und reden wir darüber!

 

Du möchtest keinen Artikel von Christiane Mähr verpassen? Dann abonniere unseren NEWSLETTER.

Christiane Mähr,Transformation

Raus aus der Höhle: Mensch verändere dich

Warum wir endlich raus aus der Höhle kommen und anfangen müssen, uns, unser Leben und unser Denken zu verändern – jetzt. Und wieso all das in die Welt hinausposaunt gehört.

Bettina, du bist Geschäftsführerin der CampusVäre – Creative Institute Vorarlberg in Dornbirn, wo ihr eine 12.000 qm große ehemalige Industriehalle zu einem multifunktionalen Arbeits-, Lehr-, Forschungs- und Lebensraum der Kreativität transformiert. Wie kann man sich das vorstellen?
Wie eine Art Erforschung, Erschließung und Neuentdeckung eines Denkmals Vorarlberger Industriekultur. Bis in die 1970er-Jahre waren diese Hallen der größte Websaal Österreichs, in den Hochzeiten arbeiteten hier an die 3.000 Menschen. Nun ist es unsere Aufgabe, das Areal in einen Arbeits- und Wirtschaftsraum der Zukunft zu transformieren und zugleich Anlaufstelle und Plattform für Kreativwirtschaft, Digitalisierung, Wissenschaft, Bildung, Innovation und Kultur zu werden. Dabei betrachten wir die Hallen neu und lernen, wie wir sie bestmöglich nutzen können – und zwar wortwörtlich „Meter für Meter“. Als wir hier eingezogen sind, waren beispielsweise die Räume, in denen wir heute unser Büro haben seit Jahren unbenutzt. Nachdem wir sie leergeräumt und geputzt hatten, kam eine nahezu intakte Substanz zum Vorschein – bis auf den Internetanschluss. Nach wie vor gibt es aber auch Räumlichkeiten, zu denen man regelrecht vordringen muss, bevor man sie überhaupt nutzen kann. Andere Teile der Hallen sind vermietet, wir alle zusammen ergeben ein sich befruchtendes Biotop und eine gute Mischung an Belebung.

Zeichnet ihr denn auch für die Ansiedlung neuer Mieter verantwortlich?
Unter anderem, ja. Und das zeigt meiner Meinung nach gut, dass die Dinge hier neu und mutig angegangen werden – immerhin sind wir weder Architekten noch Immobilienentwickler, sondern ein Institut für Kreativität, das diese Hallen kuratorisch und inhaltlich neu entwickeln soll. Unser Ansatz ist es, Bestehendes zu erhalten und im Sinne des Urban Minings und der Sekundären Ressourcennutzung im Kreislauf der Verwendung zu halten. Die Stadt Dornbirn geht diesen wichtigen Weg in die Zukunft mit und hat entschieden, die Hallen – anders als ursprünglich geplant – zur Umsetzung unserer Vorhaben zu erhalten. Es ist unsere Aufgabe, die Hallen mit neuem Leben zu füllen, sie zu bespielen und sie zu einem Zentrum für Innovation und Kreativität zu entwickeln. Entsprechend war und ist wichtig, dass Projekte, Ideen und künftige Mieter der Idee der „Werkstatt zur Entwicklung der Zukunft“ folgen. Ein Beispiel: Ein Starbucks würde nicht zur CampusVäre passen, sehr wohl aber eine regional und nachhaltig arbeitende Kaffeerösterei. Das Bekenntnis zum Standort ist im Hinblick auf die Ansiedlungsökonomie künftiger Mieter entscheidend.

Gerade wenn es um die Zukunft geht, kann man zwar Pläne schmieden, Zukunftsbilder und Möglichkeitsräume entwickeln, benötigt allerdings immer Gestaltungsspielraum und die Möglichkeit zum Scheitern und Umkehren.
Exakt. Man kann nicht alles wissen. Aber man kann der Zukunft einen Experimentierraum geben. Disruption hilft dabei ebenso wie Kunst und Kultur. Wenn es etwa darum geht, den Menschen und potenziellen künftigen Mietern die Hallen näherzubringen und sie für den Standort zu begeistern. Hard Facts allein genügen dabei nicht mehr. Eine gute Anbindung, Abstellmöglichkeiten etc. sind Standard. Die Menschen brauchen mehr bzw. wollen inspiriert werden. Entsprechend stellen wir uns bei jeder Weiterentwicklung zuerst die Frage, welche Bedürfnisse künftige Mieter bzw. Nutzer haben. Eine Grundhaltung, die ich übrigens aus meinen bisherigen beruflichen Stationen (u.a. Urbane Künste Ruhr, Museumsquartier Wien, Tabakfabrik Linz, Anm.) mitnehmen durfte. In der Tabakfabrik Linz heißt es etwa: „Wegen Umbau geöffnet“. Das ist doch großartig! Es geht nicht um Perfektion, sondern um das gemeinsame Entstehen lassen von Zukunft.

(c) Dietmar Tollerian

Die Umgestaltung einer ehemaligen Industriehalle zu einem Ort der Kreativität kann man ja auch auf die Gesellschaft umlegen. Ich meine: In einer sich derart schnell verändernden Welt, brauchen wir doch eine komplett neue Kultur. Und was wäre da passender als eine Kreativkultur.
Zumal Kreativität der Rohstoff der Zukunft ist. Allerdings brauchen Kreative die richtigen Rahmenbedingungen, um Zukunft schaffen zu können. Und ist nicht jeder kreativ? Kann nicht jeder, neue Dinge erschaffen?

Sofern man mit dem richtigen Mindset an die Sache herangeht, auf jeden Fall.
Ja, wir brauchen ein neues Mindset. Angst vor der Zukunft zu haben, macht keinen Sinn. Ich selbst habe weder Zukunftsängste noch kenne ich für mich und meine Welt realistische Bedrohungsszenarien. Dabei ist natürlich wichtig, dass man sich auf sich selbst verlassen kann. Dann nämlich kann man so viel schaffen und erschaffen. Geht nicht, gibt es in meiner Welt schlichtweg nicht. Wir müssen den Menschen ihre Wirkfähigkeit zurückgeben.

Und wir müssen sie ermutigen, positive Zukunftsbilder zu zeichnen. Ich bin zwar voll bei Dir, dass es keinen Sinn macht, Angst vor der Zukunft zu haben. Viele aber sind kritisch und blicken pessimistisch in die Welt von Morgen und Übermorgen. Daher müssen wir die Menschen zum Diskurs einladen, mit ihnen über Zukunft sprechen und eben positive Zukunftsbilder schaffen.
Das ist auch in der Argumentation gegenüber der Politik von großer Bedeutung. Wenn sich eine Gesellschaft verändert, verändern sich die Systeme ebenso. Was mich so stört ist: Es wird immer mit alten Werkzeugen argumentiert. Dabei können wir einen Computer nicht mit einem Schraubenzieher reparieren. Und einmal mehr ist Kreativität ein wichtiger Asset – womöglich sogar das Asset der Zukunft, auch um einen Standort attraktiv zu machen, vor allem in Zeiten des Fachkräftemangels.

Du hast ja schon einige berufliche Stationen an unterschiedlichen Orten hinter Dir. Was treibt dich an, dich kontinuierlich zu verändern?
Stimmt. Ich habe zwischen verschiedenen interessanten Jobs gewechselt und damit zugleich Wohnort und Gesellschaft. Ich sage immer: Ich liebe es fremd zu sein und heimisch zu werden. Und das beziehe ich auch auf Themen. Vor einigen Jahren fand ich beispielsweise die Digitalisierung noch nicht so interessant. Mittlerweile aber habe ich mich damit beschäftigt und bin davon überzeugt, dass sie uns und unser aller Leben bereichert.
Eine meiner beruflichen Stationen hat mich übrigens ins Ruhrgebiet geführt (Bettina war Teil von RUHR.2010 – Kulturhauptstadt Europas und Urbane Künste Ruhr, Anm.). Bis heute bin ich begeistert davon, wie sehr sich die Menschen dort aufeinander verlassen und wie viel sie damit bewirken können. Das hat vor allem mit der jahrhundertelangen Bergbaugeschichte zu tun: Über Generationen hinweg mussten sich die Kumpel im wahrsten Sinne des Wortes blind aufeinander verlassen. Nach dem Niedergang des Bergbaus waren die Menschen zuerst fassungslos. Und dann entscheiden sie sich, sich für die Kulturhauptstadt zu bewerben – und es hat funktioniert, weil sie gemeinsam angepackt, daran geglaubt haben und auf sich vertrauen konnten. Heute hat sich das Ruhrgebiet zu einer lebendigen Region entwickelt, weil die Menschen an der Transformation beteiligt waren und mitgewirkt haben. Also ja, man kann es schaffen, Dinge zu bewegen und zu verändern – wenn man dazu ermutigt und befähigt wird.

Vielen Dank für das Gespräch, Bettina!

 

(c) Dietmar Mathis

 

Zur Person: Bettina Steindl

…Bettina Steindl ist seit 2020 Geschäftsführerin der CampusVäre – Creative Institute Vorarlberg GmbH am Campus V in Dornbirn. Zuvor hat die gebürtige Tirolerin, die heute im Bregenzerwald zuhause ist und auch an Fachhochschulen und Universitäten unterrichtet, unter anderem in Dornbirn das Bewerbungsbüro zur Kulturhauptstadt Europas 2024 geführt und war Leiterin des designforum Wien.
www.c-i-v.at

 

Du möchtest kein Gespräch von Christiane Mähr verpassen? Dann abonniere unseren NEWSLETTER.

Im Gespräch mit...,Transformation

Kreativität ist das Asset der Zukunft

Bettina Steindl und ihr Team errichten in Dornbirn (Vorarlberg, A) eine „Werkstatt zur Entwicklung der Zukunft“. Warum Kreative diese brauchen, wieso es nicht um Perfektion geht und wieso sie selbst keine Angst vor der Zukunft kennt.

Gastkommentare sind Beiträge, die nicht aus der Redaktion von Zukunft Neu Denken entspringen.

 

Transformationen gibt es zurzeit unzählige. Wir hören von Transformationen im Umgang mit dem Klimawandel, von gesellschaftlichen als auch politischen Transformationen oder von solchen, die in Unternehmen vonstatten gehen. Und genau um diese Letzteren soll es an dieser Stelle gehen.
Transformare stammt aus dem Lateinischen und beschreibt einen Wandel von einem Zustand in einen anderen. Im betriebswirtschaftlichen Kontext ist es also das Vorhaben, eine Organisation von einem Zustand im Jetzt in einen definierten Zielzustand zu bringen. Als Gründerin und ehemalige Leiterin eines Transformation Offices in einem global tätigen Konzern habe ich mich viele Jahre immer wieder folgende Worte sagen hören:

„Wenn wir unser neues Geschäftsmodell erfolgreich umsetzen wollen, müssen wir beginnen, uns anders zu verhalten. Eine Transformation geschieht zuallererst im Innen. Erst dann kann ein Wandel nach außen wirken. Transformation heißt, dass wir damit beginnen, uns als Führungskräfte anders zu verhalten.“

Die Reaktion war meist zustimmendes Nicken. So weit, so gut. In den darauffolgenden Diskussionen ging es meist um Themen wie Kundenorientierung, Agilität, Selbstorganisation und sinnstiftende Zusammenarbeit, kürzere Entscheidungswege, flachere Hierarchien und autonome Teams. Und das alles führte schlussendlich zur „Erkenntnis“: Wir brauchen ein neues Mindset!
Daran ist natürlich nichts falsch. Und darüber, dass ein Mindset-Change hermuss, ist man sich in Führungskreisen auch rasch einig. Aber was heißt denn das eigentlich?

Das Verhalten der anderen

Ein neues Mindset bedeutet, dass sich die Leute anders verhalten sollen. Die Mitarbeiter tun nicht so wie das Management will. „Als Organisation sind wir zu wenig innovativ, zu wenig kundenorientiert und zu langsam“, so der Tenor. Der Pluralis Majestatis bezieht sich in diesem Fall jedoch nur auf einen Teil der Belegschaft. Gemeint sind also alle – außer dem Management.
Es wird in Führungsklausuren und Strategiemeetings viel über die notwendige Transformation und den vielgepriesenen Mindset-Change gesprochen. Man(n) ist sich der Dringlichkeit bewusst und auch dass das Ganze nicht so einfach wird. Aber in diesen Gesprächen denkt kaum jemand daran, dass eine Transformation gerade mit denjenigen zu tun hat, die den Wandel initiieren und vorantreiben wollen: den Führungskräften. Und so kommt es dazu, dass ein anderes Verhalten gewünscht ist. Das aber bezieht sich eben oft nur auf das Verhalten der anderen.

Der Satz „Wir brauchen ein neues Mindset“ ist mittlerweile zu einer derart weit verbreiteten Floskel geworden, dass sich niemand mehr zu fragen traut: „Was ist das eigentlich: ein neues Mindset?“ Mir fällt dabei immer die Matrix aus dem gleichnamigen Science-Fiction-Film ein. Ist mit dem Mindset-Change vielleicht auch das Upload eines neues Bewusstseins-Programms gemeint, sodass wir plötzlich neu denken können und uns anders verhalten?
Um zu einem neuen Denken zu kommen, müssen wir uns allerdings zuerst darüber bewusstwerden, was und wie wir heute denken, in welche Denkfallen wir tappen und welchen Mustern wir unbewusst unterliegen. Während die einen auf künstliche Intelligenzen aus dem Silicon Valley setzen, plädiere ich für die gute alte Philosophie: „Ich denke, also bin ich.“ René Descartes eröffnet uns damit die Möglichkeit, uns durch Denken zu verändern und uns folglich auch anders zu verhalten.

Mindset-Change transformieren

Transformation in Unternehmen ist ein anderes Wort für Reorganisation und Restrukturierung. Es geht in Wahrheit nicht um einen Wandel, sondern um das Bewahren der herkömmlichen Logik unter Verwendung des Begriffs Transformation. Auch wenn von einem Kulturwandel gesprochen wird, wird dieser letztendlich nicht ernst genommen. Da Kultur im derzeitigen Denken nicht in messbare Größen gegossen werden kann, spielt sie am Ende des Tages eine untergeordnete Rolle.
Eine neue Herangehensweise, die wirklich ein neues Mindset voraussetzt, würde sich nicht mehr an Profit als Zielgröße für den Erfolg einer Transformation orientieren. Wie in der Quantenphysik könnten stattdessen erstrebenswerte Seins-Zustände qualitativ beschrieben werden. Ein möglicher Zielzustand wäre dann zum Beispiel die Beschreibung gelingender Kooperationen im Unternehmen.
Der viel besprochene Mindset-Change im Unternehmenskontext hieße somit, endlich vom längst überholten Bild des homo oeconomicus abzugehen. Diesen Schritt zu gehen, verlangt allerdings nachdenken, hinterfragen, neu bewerten, umdenken und folglich sein Verhalten ändern.
Ich bin sehr wohl der Meinung, dass bei zahlreichen Unternehmen Transformationen anstehen. Und für viele Unternehmen ist es wirklich an der Zeit, an ihrem „Inneren” zu arbeiten, da sonst die Überlebensfähigkeit mittel- bis langfristig nicht mehr garantiert ist. Jedoch bezieht sich auch die Transformationsarbeit in Unternehmen in einem kulturellen Wandel. Und dieser setzt wiederum voraus, dass überholte Theorien, alte Muster und Handlungsweisen hinterfragt werden, dass neue Sichtweisen Einzug halten, neues Verhalten geübt wird und so an der Änderung der Wahrnehmung gearbeitet werden kann.
Ist das gegeben, könnten wir in der Tat vom Einzug eines neuen Mindsets im Sinne neuer Denk- und Verhaltensmuster sprechen. Und dann ist Transformationsarbeit auch wieder lohnenswert.

 

 

Über die Autorin: Michaela Burger

… leitete zuletzt die Marketing- und Kommunikationsabteilung des international tätigen Beschlägeherstellers Blum in Höchst. Zuvor war die gebürtige Niederösterreicherin viele Jahre bei Swarovski tätig, wo sie unter anderem für Strategie, Innovation und Transformation verantwortlich zeichnete. Ihre beruflichen Anfänge machte sie bei einem internationalen Biopharmazeuten im Human Ressource Bereich. Michaela ist außerdem Teil des Zukunftsrates von Zukunft Neu Denken.

Du möchtest keinen Gastkommentar mehr verpassen? Dann abonniere unseren NEWSLETTER.

Gastkommentar,Transformation

Mindset-Change: Transformation neu denken

Michaela Burger hat schon einige Transformationen in Unternehmen miterlebt. Warum der Ruf nach einem neuen Mindset immer besonders laut war, sich aber dennoch nur selten etwas verändert hat und wie ein Mindset-Change wirklich funktionieren könnte.

Verantwortung hat irgendwie einen negativen Touch. „Du musst endlich lernen, Verantwortung zu übernehmen!“, heißt es oft mit recht scharfem Unterton. Also nimmt man sie wahr, schließlich kann sie uns niemand abnehmen und wir können auch nicht aus ihr entlassen werden. Zuweilen ist die Rede von einer großen Verantwortung, die einem übertragen wird und der man natürlich gerecht werden muss. Da nimmt es nicht Wunder, dass man unter so einer Last schwer zu tragen hat und sich mitunter scheut, sich der Verantwortung zu stellen.

Ich und die anderen

Doch ist Verantwortung tatsächlich so schlecht wie ihr Ruf? Nein. Zumindest nicht, wenn man sich darüber im Klaren ist, wofür und für wen man sie übernimmt. In dem Zusammenhang sei betont, dass vielfach von Eigenverantwortung die Rede ist. Soll heißen: Man soll das eigene Schicksal selbst in die Hand nehmen, nicht fremdbestimmt durch die Welt gehen und andere für sich entscheiden lassen. Das ist auch gut so. Selbstverantwortlich zu handeln bedeutet allerdings nicht, nur für sich verantwortlich zu sein. Jede Handlung hat Konsequenzen. Manchmal betreffen diese ausschließlich einen selbst, in den überwiegenden Fällen aber hat unser Tun auch Auswirkungen auf unsere Mitmenschen, unsere Umwelt und vor allem auf nachfolgende Generationen.
Die Welt, in der wir leben, verändert sich schneller und schneller. Wir sind so vernetzt wie nie zuvor. Dementsprechend können Ereignisse, die gar nicht in unserer unmittelbaren Umgebung stattfinden, direkte Folgen auf unseren Alltag haben. Die Pandemie führt uns seit zwei Jahren vor Augen, dass die Globalisierung auch etliche Fallstricke gelegt hat. Der Krieg in der Ukraine macht uns mehr als deutlich, wie schnell sich alles von heute auf morgen verändern kann. Pläne schmieden war gestern – und das wird sich nicht mehr ändern. Im Gegenteil: Wandel und Umschwünge werden an Geschwindigkeit und Massivität zunehmen.
Bei all der Selbstbestimmtheit können wir also nicht nur auf uns schauen. Wir müssen darüber hinaus das Big Picture im Auge behalten und den Blick in die Zukunft richten. Was schlussendlich kommen wird, weiß niemand. Doch wenn ich mir darüber im Klaren bin, dass mein eigenes Tun Konsequenzen für mich und andere hat und wenn ich bereit bin, diese zu tragen, ist der erste Schritt in Richtung kollektive Verantwortung getan.

Wertvolle Verantwortung

So betrachtet, ist Verantwortung durchaus weitreichend – schwer muss sie deshalb nicht sein. Das liegt vielmehr an einem selbst, denn in erster Linie ist Verantwortung die Fähigkeit, das eigene Können und mögliche Folgen von Entscheidungen einzuschätzen, und dann entsprechend zu handeln. Einerseits so, dass man das, was man erreichen möchte, tatsächlich erreicht. Andererseits aber auch, dass man um- und weitsichtig handelt. Verantwortungsbewusst zu sein heißt außerdem, selbstbestimmt und völlig frei in seinen Handlungen zu sein, schließlich kann ich immer anders handeln. Oder sagen wir so: Manchmal muss man sich sogar gegen etwas entscheiden – und handelt damit wesentlich verantwortungsvoller, als wenn man seiner vermeintlichen Verpflichtung nachkommen würde.

Und wie weiß man, welches die „richtige“, die verantwortungsvolle Entscheidung ist? An sich erst im Nachhinein – oder um es mit Søren Kierkegaads Worten zu sagen: „Verstehen kann man das Leben rückwärts. Leben muss man es aber vorwärts.“

Das Maß aller Dinge sind die eigenen Werte. Im Hinblick auf meine Tätigkeit bei Zukunft Neu Denken kommen die Werte unserer Plattform hinzu. Unter anderem wollen wir Menschen zum Neudenken, Umdenken und Tun motivieren. Für mich bedeutet das, dass ich in meinen Texten, in den Gesprächen, die ich führe, in all meinem Tun niemals nur Probleme und Herausforderungen aufzeige. Und das obwohl mir klar ist, dass Schreckensmeldungen und Skandale, „breaking news“ und Negativschlagzeilen häufiger angeklickt werden. Das Problem jedoch ist: Sie bringen mich, den Leser oder mein Gegenüber keinen Schritt weiter. Stattdessen lösen sie Stress, Verunsicherung und Angst aus, reißen einen mitunter in eine Negativ-Spirale, die bis zu Depressionen und Belastungsstörungen führen kann.

Scheiße plus X

Zugegeben: Zu einem großen Teil müssen die Medien in die Verantwortung genommen werden, die ja als „vierte Macht“ im Staat bezeichnet werden und als solche Exekutive, Legislative sowie Judikative zwar nicht direkt beeinflussen, aber durch ihre Berichterstattung zur öffentlichen Diskussion beitragen und dadurch das politische Geschehen beeinflussen können. Ob sie dieser Aufgabe wirklich nachkommen und/oder wer von wem beeinflusst wird, soll an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden.
Für mich jedenfalls sind gut recherchierte, verständlich aufbereitete und vor allem unabhängige Inhalte ein Muss. Doch sie sind nicht genug. Es reicht nicht, über Tatsachen und bestehende Dinge zu berichten – schon gar nicht, wenn sie in Form von dystopischen Horror-News daherkommen. So bleiben wir im Jetzt, wenn nicht sogar im Gestern stecken. Mit Negativmeldungen gespickte Stories liefern keine Informationen, die für das Morgen von Bedeutung wären, sondern lähmen den Leser nur. Insbesondere, wenn sie in einem derart geballten Ausmaß daherkommen, wie das momentan der Fall ist. Mittlerweile können wir 24/7 Nachrichten konsumieren. Und viele tun das auch – nicht immer aktiv, doch dank Sozialer Medien (oder sollten wir vielleicht A-Soziale Medien sagen?), Newsfeeds und diverser Apps poppen ständig Neuigkeiten auf Handy, Tablet und Co. Ein Klick genügt und schon scrollt man sich wieder durch unzählige Untergangsszenarien. Das passiert so oft, dass dafür ein Begriff definiert wurde: Doomscrolling nennt es sich, wenn die meiste Zeit der Mediennutzung dafür draufgeht, negative Nachrichten zu konsumieren.
Und so sehe ich es als meine Verantwortung, neben all den Tatsachen – ob negativ oder positiv – immer auch nach weiteren Möglichkeiten zu suchen. Ich versuche das schon seit Jahren. Mal funktioniert es besser, dann wieder knalle ich mit dem Negativ-Filter vor den Augen an die Wand. Letzteres passiert mir allerdings immer seltener und immer öfter zeige ich auch Lösungen und Wege auf. Dass sich dies konstruktiver Journalismus nennt, habe ich kürzlich durch Ronja von Wurmb-Seibel erfahren – wobei die Journalistin, Autorin und Filmemacherin es auch „Scheiße plus X“ nennt. Warum sie das tut, steht in ihrem Buch „Wie wir die Welt sehen“ mit dem vielsagenden Untertitel: Was negative Nachrichten mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien können. Absolut empfehlenswert!

Raus aus dem medialen Missbrauch – rein in die Zukunft

Und doch sind es nicht die Medien und Journalisten allein, die sich ihrer Verantwortung bewusst sein sollten. Jeder Einzelne ist aufgefordert, Eigenverantwortung zu übernehmen, indem er bewusst Nachrichten konsumiert, sich beispielsweise ein tägliches Zeitlimit setzt und sich nur bei ausgewählten Medien sowie möglichst tiefgründig informiert, also nicht bloß Schlagzeigen liest. Und selbst dann gilt es aufzupassen, nicht ständig die Negativ-Brille aufzuhaben. Das heißt nicht, dass man das Negative aussparen und in eine rosarote Plüschwelt eintauchen sollte, sondern dass wir uns aktiv gegen medialen Missbrauch wehren (den wir uns zum Teil selbst zufügen). Erst wenn wir hier und heute lösungsorientiert nach Wegen suchen, übernehmen wir Verantwortung für das Morgen und geben der Zukunft eine Chance.

 

Du möchtest keinen Artikel von Christiane Mähr verpassen? Dann abonniere unseren NEWSLETTER.

Christiane Mähr,Verantwortung

Breaking News: Es liegt in Deiner Verantwortung

Wie wir heute Verantwortung für morgen übernehmen können, was das mit Horrormeldungen und sonstigen Nachrichten zu tun hat und warum wir die Scheiße lösen müssen.

Die Verstädterung nimmt zu. Gleichzeitig ziehen die Menschen vermehrt aufs Land – nicht erst seit der Pandemie. Inwiefern passt das zusammen?
Stimmt. Es ist allerdings nur ein scheinbarer Gegensatz, denn die Menschen ziehen nicht in die Pampas, sondern siedeln sich in einem Umkreis von bis zu 100 km rund um die großen Metropolregionen an. Diese natürliche Abwanderung hat vor gut fünf Jahren angefangen und wurde durch die Pandemie verstärkt. Nun haben wir einerseits eine Zunahme der Verstädterung, andererseits aber eben auch immer größer werdende Ballungsräume rund um die Städte.

Das Home Office wird also bleiben. Immerhin lebt man auf dem „Land rund um die Stadt“ ja nicht abgeschottet, sondern arbeitet von zuhause aus.
Genau. Doch es ist nicht mehr so wie rund um die Jahrtausendwende, als man wegen des aufkommenden ersten Internethypes dachte, dass man überall arbeiten kann – also auch im hintersten Wald oder am Strand. Fakt ist: Ein Kreativer allein verhungert im Waldviertel. Diejenigen, die jetzt aufs Land ziehen, wollen und brauchen soziale Interaktion und Vernetzung. Entsprechend wichtig ist es, dass die Kommunen das verstehen. In Brandenburg wird das beispielsweise hervorragend umgesetzt. Da werden die Bürgermeister der umliegenden Regionen in den digitalen Berliner Szenen aktiv vorstellig, erklären den Menschen, dass sie in ihren Gemeinden kreative Entwicklungsstätten vorfinden, wo sie sich mit anderen Menschen austauschen können – beruflich wie privat, es lassen sich ja auch immer mehr Familien abseits der Stadt nieder. Die Lebensqualität ist auf dem Land besser, die Preise sind niedriger. Letzteres ist generell ein Thema, denn die Kosten für Wohnen, Leben und Arbeiten steigen überall rasant an. Gut, dass bei den Betrieben ein Umdenken stattfindet und es unterschiedliche Arbeitsmodelle gibt, die Home Office, Satellitbüros usw. ermöglichen.

Wird das Land dadurch zur städtischen Region?
Eine gute Frage, schließlich werden durch die Menschen auch Lebensstile „exportiert“. Der Transfer funktioniert allerdings in beide Richtungen. Urbane und ländliche Lebensstile werden sich künftig also vermehrt vermischen: Die Stadt wird grüner, das Land kreativer. Eine interessante Osmose.

Klingt wirklich spannend. Inwiefern aber können die Bürger mitbestimmen, wie sich das Leben dort, wo sie leben, entwickelt – egal ob in der Stadt oder auf dem Land?
Es zeigt sich ein deutlicher Schub an partizipativen Kollaborationen und Formaten, in welchem Gefüge auch immer – sei es im beruflichen oder privaten Umfeld. Selbst bei den Kommunen findet hier ein Umdenken statt. Ein tolles Beispiel ist Barcelona, wo eine sehr starke partizipative Kultur gepflegt wird. Bei rund zwei Drittel aller Entscheidungen werden die Bürger aktiv einbezogen. Natürlich werden Pläne, Ideen usw. vorab von den Entscheidungsträgern entwickelt, dann aber in Bürgerforen hineingespielt, dort diskutiert und mittels Feedback-Schleifen wieder an die Kommunen zurückgeleitet.

Wow. Das wusste ich nicht. Und die Menschen nehmen an diesen partizipativen Prozessen tatsächlich teil? Oder anders gefragt: Ist den Menschen klar, dass sie auch Verantwortung übernehmen müssen – gerade im Hinblick auf das Gemeinwohl?
In Barcelona wird das sehr gut angenommen. In Skandinavien ist es ohnehin selbstverständlich, dass das soziale Gefüge und damit das Verantwortungsgefühl über die eigene Familie hinausgeht. Je weiter südlich man schaut, umso mehr steht die Familie im Mittelpunkt. Der Staat hingegen ist schlecht. Er nimmt mir etwas weg. Daher ist es auch legitim, ihn zu hintergehen.

Und wir liegen irgendwo dazwischen.
Ja, wobei sich eine gewisse „Skandinavisierung“ hinsichtlich der Verantwortung für das Gemeinwohl abzeichnet. Allerdings gilt nach wie vor: Je direkter das eigene Leben betroffen ist, umso größer das Engagement. Mein Dorf, meine Stadt, meine Region sind mir näher als der Staat. Wir sind oft viel zu weit weg von den anderen. Daher ist es entscheidend, dass zunehmen Interaktion stattfinden kann. Wir sind soziale Wesen, leben in Netzwerken, bei denen Knotenpunkte festgelegt werden müssen.

Dass sich das eigene Tun auf das Leben des anderen auswirkt, wurde in der Pandemie bestätigt. In dem Zusammenhang sprichst Du davon, dass Nähe und Distanz stetig neu vermessen werden und es kein Wunder sei, dass sogenannte Mikro-Formaten einen Boom erleben. Wie ist das gemeint?
Eine digitale Gesellschaft zeichnet sich durch dezentrales Leben aus. Zugleich brauchen wir Interaktion und Vernetzung, die unter anderem eben bei bzw. durch Micro Hubs stattfinden. Das können virtuelle neuronale Netzwerke sein genauso wie Mikro-Abenteuer, die man mit Freunden oder Familie erlebt. Für Firmen bedeutet das beispielsweise, dass sich alteingesessene Strukturen auflösen dürfen und die interne Organisation gezielter agiert. Im Übrigen ist erwiesen, dass der Mensch nur mit einer begrenzten Anzahl von Menschen soziale Beziehungen unterhalten kann – im Schnitt sind das 150 Personen, die sogenannte „Dunbar-Zahl“.

Sinnvolle Vernetzung bedeutet also lieber weniger, dafür aber wertvolle Kontakte.
Korrekt. Und viele international tätige Unternehmen orientieren sich bereits an der Dunbar-Zahl. Doch in welchem Bereich auch immer: Intelligente Vernetzung wird künftig entscheidend sein, weniger der Ort selbst. Dazu braucht es allerdings ein neues Mind-Set.

Gutes Stichwort. In Städten findet das Leben ja vermehrt im öffentlichen Raum statt. Nimmt nun die Verstädterung zu, ist in der Hinsicht wohl auch ein breites Umdenken nötig.
Jein, denn Leben im öffentlichen Raum hängt nur zum Teil mit der Verstädterung zusammen. Genauso spielt etwa die zunehmende Digitalisierung eine Rolle: Je digitaler die Welt, desto wichtiger werden Begegnungsorte, wo Vernetzung möglich ist, konsumfreie Zonen, Knotenpunkte – Hubs eben. Dort können Reflexion, Irritation und Provokation stattfinden, sodass die Menschen ihre Perspektiven erweitern und aus ihrer Bubble rauskommen können. Wichtige Hubs der Zukunft sind meiner Meinung nach übrigens Bibliotheken. Im städtischen Raum sind die Strukturen schon gut vorhanden. Auf dem Land ist das noch nicht der Fall, weil bislang kein Bedarf war. Es gab und gibt zwar das Gasthaus oder das Vereinsleben. Mit der „Landflucht“ wird es jedoch zu Veränderungen kommen. Unter anderem wird die Kombination von Wohn-, Arbeits- und Lebensraum genauso wichtig wie in der Stadt. Dafür braucht es aber eine entsprechende Infrastruktur und dafür wiederum weitsichtige Bürgermeister, die das vorantreiben. Die Attraktivität einer Region hängt sehr vom politischen Willen ab. Wobei auch die Bewohner einiges selbst initiieren und bewirken können.

Womit wir wieder bei der Verantwortung wären. Was braucht es, damit die Menschen in der Hinsicht ins Tun kommen?
Sie müssen darüber aufgeklärt werden, warum es wichtig und sinnvoll ist, sich einzubringen. Das kann anfangs im unmittelbaren Umfeld passieren, sodass sie sehen: Es macht einen Unterschied, wenn ich mich engagiere. Große Entscheidungen werden auch in Zukunft von der Politik getroffen. Dennoch ist es wichtig, dass die Bürger aktiv teilnehmen können – wie man am Beispiel Barcelona sieht. Dazu aber sind Information und Vernetzung nötig, ein offener und vor allem wertfreier Diskurs, ineinandergreifende Prozesse und Feedbackschleifen, die es den Menschen ermöglichen, ihre Ideen und auch Bedenken mitzuteilen. Und wenn sie dann tatsächlich gehört werden, werden die Menschen immer öfter ihre Verantwortung wahrnehmen.

Vielen Dank für das Gespräch, Andreas!

 

(c) Oliver Wolf

 

Zur Person: Andreas Reiter

Der gebürtige Tiroler beschäftigt sich schon seit über drei Jahrzehnten mit der Zukunft. 1996 gründete er das ZTB Zukunftsbüro in Wien und berät seither Unternehmen, Kommunen, Destinationen und öffentliche Institutionen bei strategischen Zukunftsfragen, Positionierung und kundenzentrierter Produktentwicklung. Andreas Reiter ist außerdem Keynote-Speaker und gefragter Referent bei internationalen Kongressen und Tagungen. Als Lehrbeauftragter für Trend-Management gibt er sein Wissen überdies an der Donau-Universität Krems und am MCI in seiner Heimatstadt Innsbruck weiter. Auf seinem Blog „Future Spirit“ macht er sich Gedanken über die Zukunft und gibt Inspirationen für den Wandel.

Link: www.ztb-zukunft.com

 

Du möchtest kein Gespräch von Christiane Mähr verpassen? Dann abonniere unseren NEWSLETTER.

Im Gespräch mit...,Verantwortung

Stadt, Land, Vernetzung: Der Mensch braucht Hubs

Landflucht und Verstädterung nehmen zu. Warum das kein Widerspruch ist, sondern zu grünen Städten und einem kreativen Land führt, weiß Zukunftsforscher Andreas Reiter. Außerdem sprechen wir darüber, was es mit der Skandinavisierung auf sich hat, weshalb wir Begegnungsorte im Mikro-Format benötigen und wie Menschen ihre Verantwortung für das Gemeinwohl wahrnehmen werden.