Plattform für verantwortungsvolle und mutige Zukunftslobbyisten

Die Politikverdrossenheit ist so groß wie nie zuvor und wird durch das Tun bzw. Nicht-Tun der Politik sogar befeuert. Wie sieht das der Bürgermeister einer 2.000-Seelen-Gemeinde im Bregenzerwald?
Grundsätzlich muss man unterscheiden, was für eine Form von Politik und auf welcher Ebene man diese betreibt. Meiner Meinung nach machen wir hier in Hittisau vor allem Gemeindearbeit und weniger Politik. Politikverdrossenheit wächst allerdings von ganz oben nach unten und somit ist sie auch bei uns in der Gemeinde zu spüren. Und es ist durchaus verständlich, dass die Bürger müde sind von der vorherrschenden Diskussionskultur in der Politik auf Bundes- und Landesebene. Andererseits muss man sagen, dass viele gar nicht mehr wissen, wie Demokratie funktioniert. Als ich zur Schule gegangen bin, gab es noch das Fach „Politische Bildung“. Diese Bildung vermisse ich inzwischen bei vielen Menschen.

Bei mir war es Teil des Geschichtsunterrichts und meinem Professor lag sehr daran, dieses Wissen zu vermitteln. Wir können hier keinen Crash-Kurs machen, aber was ist im Hinblick auf das demokratische Prinzip deiner Meinung nach entscheidend?
Demokratie setzt ein gewisses Sozialverhalten voraus. Mit dem Egoismus, den die Menschen heutzutage oft an den Tag legen, ist das leider nicht möglich. Nur über diejenigen zu schimpfen, die bereit sind, politische Verantwortung zu übernehmen, bringt uns nicht weiter. Gerade die Arbeit in einer Gemeinde umfasst unzählige Bereiche, die den Bürgern als selbstverständlich erscheinen, die aber dennoch erst einmal bewerkstelligt werden müssen. Und dafür braucht es im Vorfeld eben oft Entscheidungen in verschiedenen politischen Gremien in der Gemeindevertretung.
Mit zwei unabhängigen Fraktionen haben wir in Hittisau eine recht spezielle Konstellation. Und obwohl es nicht um Parteiinteressen geht, erleben wir immer wieder recht angespannte Situationen. Bei uns geht es immer darum, inhaltlich zu überzeugen und schlussendlich ein Miteinander zu finden. Das macht es nicht leicht, aber spannend. Von „kommunaler Intelligenz“ zu sprechen und dies auch zu verstehen sind zweierlei. Verantwortung für die Allgemeinheit und die nächsten Generationen zu übernehmen ist schlussendlich entscheidend. Eine große Persönlichkeit hat sinngemäß einmal erwähnt: Demokratie ist nicht die perfekte Staatsform, doch es gibt bis dato nichts Besseres.

Oder um es mit Winston Churchills Worten zu sagen: „Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“
Genau. Und hin und wieder braucht es auch in der Politik falsche Entscheidungen, daraus kann – oder könnte man lernen. Wenn der Mensch nie experimentiert hätte, würden wir heute noch auf allen Vieren laufen.

Entscheidungen – ob sie schlussendlich richtig oder falsch sind – hängen eng mit Gestaltungsmöglichkeiten zusammen. Wie viele hat ein Bürgermeister tatsächlich und mit welchen Grenzen hat man zu kämpfen?
Spannend, dass du von Grenzen sprichst. Ich selbst möchte nämlich Grenzen nie als solche akzeptieren. Oder sagen wir so: Natürlich gibt es Grenzen, aber dann muss man halt einen neuen Weg suchen. Und den gibt es immer. So, wie viele Wege nach Rom führen, führen viele Wege zur Umsetzung einer Vision. Das kann mühsam sein, doch es funktioniert. In den über sieben Jahren, in denen ich Bürgermeister von Hittisau bin, ist uns sehr viel gelungen, was wir uns als Vision gesetzt haben. Oft hat es länger gedauert, als wir dachten. Das Ziel haben wir dennoch meist erreicht.
Abgesehen davon bin ich überzeugt, dass die Welt nicht an den Grenzen einer Gemeinde aufhört. Soll heißen: Die Region ist wichtig, sie ist das Fundament für eine starke Gemeinde. Und im Bregenzerwald leben wir das sehr gut. Dadurch haben wir auch einen nicht zu verachtenden Einfluss, wenn uns doch mal Grenzen aufgezeigt werden wollen.

Ist das denn oft der Fall?
Nun, man muss schon sagen, dass die Überreglementierung zum Teil ein unerträgliches Ausmaß annimmt – um nicht zu sagen: wir verwalten uns zu Tode. Allerdings muss man dann halt mit den Verantwortlichen darüber reden und Gegenvorschläge unterbreiten. Schlussendlich haben wir viele Dinge erreicht, von denen wir im Vorfeld nicht einmal geträumt haben, sie umsetzen zu können.
Übrigens: Gerade im Hinblick auf gemeinwohlorientiere Angelegenheiten sind nicht alle Grenzen, die etwa vonseiten der Raumplanung oder des Naturschutzes gesetzt werden, lästig. Soll heißen: Wenn wir diese unglaubliche Kulturlandschaft erhalten wollen, die wir hier in Vorarlberg haben, dann müssen Einzelinteressen auch hin und wieder Grenzen gesetzt werden.

Hittisau Denk.Mal (© Gemeinde Hittisau)
Ein Platz zum Nachdenken und Diskutieren: Denk.Mal (© Gemeinde Hittisau)

Du meinst, dass beispielsweise nicht mehr jeder ein Einfamilienhaus bauen darf.
Wir müssen uns die Frage erlauben, ob es noch zeitgemäß und sinnvoll ist, ein Einfamilienhaus zu bauen. Widmungsreserven lassen den Traum vom Einfamilienhaus nach wie vor zu, ob dies dem Sinne von sparsamem Umgang mit Grund und Boden entspricht, vor allem an die nächsten Generationen gedacht wird, sei dahingestellt. Die Basis unserer Lebensqualität ist nicht, dass wir gut und viel verdienen. Es ist eben unsere Kulturlandschaft und diese braucht Freiräume – sowohl in Form von freien Flächen, als auch als Dritte Orte. In Hittisau haben wir etwa den Platz „Denk.Mal“ geschaffen, der einerseits zum Nachdenken, anderseits zum Diskurs einladen soll. Es ist die Aufgabe der Bürgermeister und Gemeindevertreter, eine Basis für ein gutes Leben zu schaffen. Orte und Regionen mit guten Jobmöglichkeiten – vor allem für junge Familien und berufstätige Mütter –, besten Bildungseinrichtungen und einem guten Mobilitäts- und Konsumangebot. Bevor gebaut wird, muss die Infrastruktur vorhanden sein. Andernfalls haben wir „Schlaforte“, wo die Menschen nur schlafen, ansonsten aber keine Zeit verbringen können und wollen.

Ist es denn wünschenswert, dass eine Gemeinde ständig wächst?
Diese Frage können wir uns gar nicht stellen, denn es passiert sowieso. Zum einen gibt es noch viel Bauland, viel mindergenutzte Wohnflächen und Leerstand. Zum anderen haben wir eine entsprechende demografische Entwicklung und auch Zuwanderung. Im Hinblick auf Letztere braucht es allerdings Integration. Bei der Flüchtlingskrise 2015/2016 hat Hittisau vorarlbergweit im Verhältnis am meisten Flüchtlinge aufgenommen. Für uns war klar, dass wir alles tun müssen, die Menschen bestmöglich zu integrieren. Im Gegenzug braucht es selbstverständlich den Willen, sich zu integrieren. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, denn ich bin selbst ein „Zuagraster“. Selbst wenn ich nur aus Dornbirn gekommen bin, werde ich immer ein „Zwei-Heimischer“ bleiben und nie zum Einheimischen werden. Wäldar ka nüd jedar sin…

Sind von den damaligen Flüchtlingen auch viele „zwei-heimisch“ geworden?
Ja, etliche sind geblieben. Insbesondere die Jungen haben gute Ausbildungen absolviert und sind in der Gemeinde bzw. in den Vereinen gut integriert.

Du hast schon einige Aufgaben angesprochen, die künftig gemeistert werden müssen. Welche davon sind im Hinblick auf das Gemeinwohl am wichtigsten bzw. am dringendsten?
Ich bin davon überzeugt, dass es in unserer Verantwortung liegt, den Kindern ein gutes Umfeld und beste Bildungseinrichtungen mit den bestmöglichen Pädagogen bereit zu stellen. Genauso brauchen wir Einrichtungen, in denen die Menschen in Würde alt werden können. Und das alles muss allen Menschen zur Verfügung stehen, egal aus welchen Strukturen sie kommen. Niemand darf auf der Strecke bleiben. Jede Familie muss die Möglichkeit haben, ihr Kind bzw. ihre Kinder so früh wie möglich in die die „Spielgruppe“ bzw. Kleinkindbetreuungseinrichtung zu bringen, sodass sie möglichst früh, Sozialkompetenz erlernen können. Das nämlich ist die Basis, damit sie zu Menschen heranwachsen, die Verantwortung für sich und ihre Mitmenschen übernehmen. Exzellente Bildung kann Motivation und Freude erzeugen.

Vielen Dank, Gerhard. Schön, dass es Bürgermeister wie dich noch gibt.

 

Bürgermeister von Hittisau Gerhard Beer ((© Gemeinde Hittisau)

Zur Person: Gerhard Beer

…ist parteifreier Bürgermeister von Hittisau und leidenschaftlicher Gastwirt im Betrieb seiner Frau Daniela. Der gelernte Kaufmann stammt eigentlich aus Dornbirn, wo er als Bediensteter im Rathaus erste Erfahrungen in der Kommunalarbeit sammelte. In die Politik wollte er trotzdem – zumindest nicht sofort. Der Liebe wegen zog er nach Hittisau, wurde Gemeindesekretär und -kassier, übernahm Leitungsfunktionen in verschiedenen Pflegeheimen, war Filialeiter einer regionalen Bankstelle und verkaufte außerdem in Deutschland – vorwiegend in Berlin – als selbstständiger Handelstreibender Lebensmittelspezialitäten aus dem Bregenzerwald. Anfang der 2000er-Jahre rückte der Vater von zwei mittlerweile jungen erwachsenen Kindern aufgrund eines Todesfalls in die Gemeindevertretung nach, blieb dort ein knappes Jahrzehnt, legte dann eine – Zitat – „politische Schaffenspause“ ein, bevor er 2015 von der Gemeindevertretung zum Bürgermeister gewählt wurde.
www.hittisau.at

 

Du möchtest kein Gespräch von Christiane Mähr verpassen? Dann abonniere unseren NEWSLETTER.

Tags:

Share on facebook
Facebook
Share on whatsapp
WhatsApp
Share on linkedin
LinkedIn
Share on email
E-Mail

Weitere Beiträge

weiter neu denken

Zum Jahresabschluss habe ich mir in einem Feedbackgespräch mit unserer Geschäftsführung gewünscht, dass ich im kommenden Jahr wieder mehr neues lernen möchte. Meinen Horizont erweitern und neue Perspektiven gewinnen möchte. Wer die Zukunft gestalten will, der muss offen für Neues sein – Neues aufsaugen, aufnehmen, inhalieren, die Dinge neu formen. So in etwa stellte ich mir das für 2023 zumindest vor. Irgendwie lebendig, aktiv und vorwärts.
Doch während der Feiertage bin ich in den inneren Diskurs gegangen. Das Jahr 2022 war für mich – um es in einem Wort zu sagen – voll. Voll im Sinne des sprichwörtlichen Fasses, dass nicht nur droht überzulaufen, sondern dies auch tat. Und so war mir plötzlich klar, dass mein Wunsch für 2023 nicht darin besteht, dieses bereits volle Fass weiter aufzufüllen. Vielmehr wünsche ich mir für das anstehende Jahr ein halb volles Fass – wobei die Betonung auf voll liegt, denn halb leer ist keine Option für mich.

Braucht es wirklich mehr?

Ich bin davon überzeugt, dass es viel positiver Energie von uns allen bedarf, eine gute und glückliche Zukunft zu gestalten. Doch wie soll das gehen, wenn wir ständig kurz vor dem Überlaufen stehen? Brauchen wir tatsächlich immer noch mehr Neues? Müssen wir uns wirklich kontinuierlich neues Wissen aneignen? Ist es sinnvoll bzw. erstrebenswert, im Hamsterrad von mehr, mehr und nochmals mehr zu bleiben? 
Meiner Meinung nach nein. Nicht höher, weiter und schneller sollte die Prämisse sein, sondern partizipativer, sinnhafter und empathischer. Achtsamer im Umgang mit unseren Ressourcen – unseren eigenen, die unserer Mitmenschen und die der Erde. Wir stehen vor großen Herausforderungen. Doch müssen wir Neues lernen, um diese Herausforderungen zu meistern und zu bestehen.

Verlernen, um zu lernen

Ich habe meine Zweifel und frage mich, ob wir nicht lieber verlernen sollten? Ein Verlernen von Glaubenssätzen, von Paradigmen, von „das haben wir schon immer so gemacht“. Können wir durch aktives Verlernen Raum für neue Perspektiven schaffen, Bilder einer Zukunft, die frei von den Grenzen der eigenen erlernten Kultur ist? Frei von den Grenzen im Denken der Möglichkeiten?
Je mehr ich darüber nachgedacht habe (und nach wie vor nachdenke), umso einfacher erscheint es mir, Neues zu lernen, als Bestehendes und Gewohntes zu verlernen. Und wer weiß: Vielleicht bietet gerade das Verlernen bzw. der Prozess des Verlernens ungeahnte Möglichkeiten für Veränderungen, Wandel und neue Erfahrungen?
Für mich ist Lernen Gegenwart. Verlernen ist Zukunft. Und lernen zu verlernen, um dabei zu lernen, ist Zukunftsgestaltung.

Über die Autorin…

Janina Clever leitet als Industrie Designerin bei Generationdesign in Wuppertal komplexe Design- und Strategieprojekte. Die studierte Arbeits- und Organisationspsychologin setzt auf nachhaltigen Mehrwert und Nutzen, der durch agile und interdisziplinäre Austauschformate und Arbeitsmethoden entsteht. Dabei sieht sie in der Fusion von digitalen und realen Formaten für die Zukunft noch unentdeckte Potenziale. Janina Clever ist außerdem Teil des Zukunftsrates von Zukunft Neu Denken.

 

Du möchtest keinen Gastkommentar mehr verpassen? Dann abonniere unseren NEWSLETTER.

Disconnect,Gastkommentar

Müssen wir lernen zu verlernen?

Lebenslanges Lernen ist in aller Munde. Janina Clever aber fragt sich: Müssen wir tatsächlich immer mehr wissen? Oder sollten wir nicht lieber lernen zu verlernen?

2.562 Menschen starben 2021 auf Deutschlands Straßen, in Österreich waren es 359. In den meisten Fällen sind diese auf nicht angepasste Fahrgeschwindigkeit, Unachtsamkeit bzw. Ablenkung und Vorrangverletzung zurückzuführen. Mit anderen Worten: Verkehrsunfälle haben meist eines gemeinsam – nämlich menschliches Fehlverhalten. Und das lässt sich ändern. Schon durch das Einhalten von Tempolimits und sonstigen Vorschriften sowie durch kontrolliertes und achtsames Fahren könnte dazu beigetragen werden, dass sich die Zahl der Verletzten und Toten im Straßenverkehr deutlich reduziert. Und nicht zuletzt könnte jeder einzelne für die eigene Sicherheit sorgen. Denn Tatsache ist: Hinter jedem Steuer stecken Menschen und Geschichten.

Crash-Kurs

In der Verkehrspolitik spielt das Thema Verkehrssicherheit europaweit eine wichtige Rolle. So wurden beispielsweise Maßnahmen festgelegt, um bereits bei der Fahrzeugherstellung besonders gefährliche Stoffe zu vermeiden und die Wiederverwendung sowie Verwertung von Fahrzeugen mit Totalschaden und deren Bauteile zu intensivieren. Ein von der Versicherung festgestellter (wirtschaftlicher) Totalschaden bedeutet also nicht automatisch, dass das Fahrzeug Schrott ist. Schließlich besteht ein Auto aus rund 10.000 Einzelteilen, die von Hersteller zu Hersteller unterschiedlich sind. Universal-Teile gibt es nicht, was ein Crash-Fahrzeug in gewisser Weise zum begehrten Ersatzteillager macht. Das am häufigsten ausgebaute Ersatzteil, bevor ein Auto verschrottet wird, ist übrigens der Katalysator, in dem sich unter anderem seltene Metalle befinden.

Eine Frage der Mobilität

Die Frage aber ist nicht nur, was passiert mit geschredderten Fahrzeugteilen – die werden sortiert und weiterverarbeitet. Sondern auch: Was passiert mit dem Menschen, der hinter dem Steuer gesessen hat – egal, ob sein Auto aufgrund eines Unfalls auf dem Schrottplatz gelandet ist oder schlichtweg, weil es nicht mehr zugelassen werden konnte? Steht das neue, noch größere, noch schnellere, noch bessere Fahrzeug bereits in der Garage? Oder setzt man auf einen kleineren Straßenflitzer, auf E-, Hybrid- oder eine andere Alternative? Oder kommt man sogar ohne Auto durchs Leben? Steigt man möglicherweise auf ein motorisiertes Zweirad um oder tritt man gar in die Pedale? Und wie schaut es mit den Öffis aus?
Um all die Fragen auf einen Punkt zu bringen: Was braucht es, damit Mobilität in Zukunft anders gedacht wird bzw. werden kann?

 

Über den Fotografen

Die Bilder wurden von Bence Szalai aufgenommen. Der Fotograf und Filmemacher möchte den Blick des Betrachters auf die Details lenken. Er sieht seine Arbeit als das Radio, den Schallplattenspieler oder den Lautsprecher, über den die Musik abgespielt bzw. gehört wird und dessen Qualität das Hörerlebnis maßgeblich beeinflusst.
www.rnbpictures.com

 

Du möchtest keine Fotostrecke mehr verpassen? Dann abonniere unseren NEWSLETTER.

Disconnect,Fotostrecke

Nur ein Kratzer: Mobilität nach dem Schrottplatz

Hinter jedem Steuer steckt eine Geschichte. Warum ein Crash-Car mehr als nur Schrott ist und wieso wir Mobilität neu denken sollten. Eine Fotostrecke von Bence Szalai.

Im Kreuzworträtsel hat das Vertrauen in die Zukunft acht, manchmal zehn Buchstaben. Im echten Leben benötigen wir dafür wesentlich mehr Buchstaben. Und immer öfter fehlen uns die Worte, wenn es darum geht, vertrauensvoll in die Welt von morgen zu schauen. Das zeigte etwa eine im Frühjahr 2022 vom SORA-Institut durchgeführte Umfrage unter rund 24.000 jungen Österreichern zwischen 16 und 25 Jahren. Diese nämlich ergab, dass es nicht gerade zum Besten steht mit dem Vertrauen in die Zukunft. Vor allem der Krieg in der Ukraine (84 %) bereitet der Generation Z Sorgen, aber auch der Klimawandel (67 %), die immer breiter werdende Schere zwischen Arm und Reich (59 %) sowie Pandemie und Wirtschaftskrise (jeweils 55 %). Dass dabei nur wenig Vertrauen in die Zukunft aufkommt, habe laut Umfrage insbesondere damit zu tun, dass wir bei den großen Zukunftsthemen – von der zunehmenden ökonomischen Ungleichheit über den Klimawandel bis hin zur Pflegeproblematik, Energiewende und Bildung – schlecht unterwegs sind. Wobei mit „wir“ eigentlich die Politik gemeint ist, denn diese handle schon seit Jahren zu kurzfristig und zu populistisch, sind 88 % der Befragten überzeugt.
Dass auch andere Generationen – ob Y, X, Babyboomer oder wie sie sonst noch so heißen – eher misstrauisch in Richtung Zukunft schielen, bedarf wohl keiner weiteren Umfragen. Doch wäre es zu kurz gedacht, den politischen Entscheidungsträgern den schwarzen Peter zuzuschieben, sich zurückzulehnen und abwartend Däumchen zu drehen. Zum einen, weil es nicht so ausschaut, als würde sich die Politik alsbald und voller Tatendrang um die anstehenden Herausforderungen bemühen. Und zum anderen ist es nicht nur Aufgabe der Politik, sich um Lösungen für die aktuellen Probleme zu bemühen. Dessen sind sich die Jungen übrigens durchaus bewusst: So sind 71 % der Meinung, dass wir alle unseren Lebensstil verändern müssen, um beispielsweise den Klimawandel zu bekämpfen.

Es liegt an uns selbst

Dass wir das Ruder selbst herumreißen, Verantwortung übernehmen und mutig (voran)gehen können, stimmt positiv – zumindest mich. Eine entscheidende Rolle spielt dabei allerdings das Vertrauen. Dieses sorgt nämlich unter anderem dafür, dass wir uns wohlfühlen und zuversichtlich sind. Was aber, wenn man sich eben hinsichtlich der Zukunft mit dem Vertrauen schwertut? Wie soll man Zuversicht schöpfen, wenn einen nur mehr Sorgen und Ängste plagen? Wie soll man sich wohlfühlen, wenn sich alles nur noch schlecht anfühlt?
Was das Wohlbefinden angeht, sollten wir wissen, dass dieses weniger mit dem zusammenhängt, was kommt, als vielmehr mit dem, was ist und was war – also mit den aktuellen Erlebnissen sowie mit unseren Erinnerungen. In seinem Weltbestseller „Thinking, Fast and Slow“ beschreibt der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann unter anderem das Konzept der zwei Selbste: So haben wir ein erlebendes Selbst, das sich andauernd mit der Frage beschäftigt: „Fühle ich mich gerade wohl oder tut es weh?“ und zugleich ein erinnerndes Selbst, dass die Frage beantwortet: „Wie war es im Großen und Ganzen?“ Kahnemann ist mittlerweile davon überzeugt, dass das eigene Wohlbefinden nicht nur damit zu tun hat, wie es uns mit dem, was wir gerade erleben, geht, sondern dass wir immer auch Urteile und Bewertungen über das bereits Erlebte einfließen lassen. Oder um es mit seinen Worten zu sagen:

„Wir müssen uns mit der Komplexität einer hybriden Sichtweise abfinden, bei der das Wohlbefinden beider Selbste berücksichtigt wird.“

Gehe ich nun davon aus, dass mein Wohlbefinden in der Zukunft sowohl davon abhängt, was ich in Zukunft erleben werde, als auch davon, was ich in der Vergangenheit erlebt habe, dann sollten wir doch alles daransetzen, heute schon positive Erinnerungen zu schaffen, sodass wir morgen eine Welt haben, in der wir uns wohlfühlen können.

Vertrauen lernen

Soweit so gut. Um das Vertrauen in die Zukunft steht es trotzdem noch nicht besser bestellt? Das mag daran liegen, dass wir in die Zukunft gar nicht vertrauen können. Nicht, weil sie sich chaotisch, alles andere als planbar und sicher präsentiert, uns im Gegenteil Rätsel aufgibt und die eine oder andere Sorgenfalte beschert. Das ist eine Tatsache, die wir akzeptieren und mit der wir leben müssen. Der Grund, warum wir der Zukunft nicht vertrauen können, ist, dass Vertrauen immer mit Menschen zu tun hat – mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen, vom engsten Familienkreis über entfernt Bekannte bis hin zur Gesellschaft generell. Sowohl das Selbst- als auch das Vertrauen gegenüber anderen ist eng mit Erfahrungswerten verbunden. So haben wir beispielsweise schon früh gelernt, ob wir auf uns selbst und unseren Fähigkeiten und/oder auf andere Menschen bauen können. Vertrauen ist folglich eine erlernte Entscheidung. Und das ist gut, denn somit liegt es erstens an uns, ob wir vertrauen oder nicht. Und zweitens können wir es wieder lernen – sofern uns das Vertrauen abhandengekommen ist.

Hoffnungsvoll ins Morgen

Wenn wir vom Vertrauen in die Zukunft sprechen, geht es also darum, den eigenen Fähigkeiten als auch anderen Menschen zu vertrauen und darauf, dass man gemeinsam den Weg meistern wird. Es gilt, (wieder) Zuversicht zu erlangen und sich beim Gedanken an die Welt von morgen wohl zu fühlen. Das lässt die Hoffnung auf eine gute Zukunft immer noch nicht wachsen, schließlich – so das allgemeine „Totschlagargument“ – weiß niemand, was kommen wird. Befasst man sich aber genauer mit dem Thema Vertrauen, schaut die Sache anders aus.
Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858-1918) beschrieb Vertrauen als einen Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen, eine „Hypothese künftigen Verhaltens“, auf die wir konkretes Handeln gründen. Wer vertraut, geht also bewusst und im guten Glauben davon aus, dass man selbst und/oder die Mitmenschen sich so oder so verhalten und dass sich in der Folge eine Sache so entwickelt, wie es versprochen wurde oder wie man es erhofft hat. Ob diese dann tatsächlich so eintritt, ist eine andere Sache und für den ersten vertrauensvollen Schritt gar nicht entscheidend. Viel wichtiger ist, dass wir Vertrauen als ein reißfestes Band begreifen, an dem wir uns auf dem Weg ins Neue, Unbekannte – oder eben in die Zukunft – anhalten und orientieren können, sogar dann, wenn Umstände (noch) unsicher erscheinen. Genauso aber sollten wir uns auch darüber im Klaren sein, dass sich Vertrauen ungeheuer schnell und durch kleinste Dinge zerstören lässt.

Was und wen bringst du mit?

Inwiefern wir anderen Menschen vertrauen (können), ist freilich so eine Sache. Doch uns selbst können oder vielmehr müssen wir auf jeden Fall vertrauen. Mit Blick in die Zukunft bedeutet das, sich seiner Fähigkeiten und Begabungen, seiner Charaktereigenschaften, seiner Werte und Haltungen bewusst zu werden. Diese sind sozusagen die Werkzeuge, die uns helfen, Situationen im Jetzt, aber auch im Morgen zu meistern und anstehende Aufgaben zu lösen.
Also: Über welche Fähigkeiten und Kompetenzen verfügst du? Was kannst du gut? Was kannst du, was viele andere nicht (so gut) können? Welche Kenntnisse und Leidenschaften treiben dich an? Worüber möchtest du immer mehr wissen? Was weckt deine Neugier, deinen Wissensdrang? Womit beschäftigst du dich intensiv – mehr als die meisten Menschen? Welche Werte vertrittst du? Welche Werte sind dir wichtig? Was gibt deinem Leben Sinn und Richtung? Welche Stärke macht dich aus, für welche Tugend stehst du, welche besondere Eigenschaft verkörperst du?
Neben all dem, was wir selbst mitbringen, kommt es auf Beziehungen, auf Gruppen und Gemeinschaften an, denen wir angehören. Womit wir wieder bei den Mitmenschen wären. Denn Tatsache ist: Gemeinsam können wir besser für unsere Interessen eintreten, uns gegenseitig motivieren und uns durch gegenseitiges Vertrauen stärken. Spätestens dann kennen wir des (Kreuzwort-)Rätsels Lösung und wissen, dass „Vertrauen in die Zukunft“ Hoffnung oder Zuversicht oder noch besser beides zusammen bedeutet.

 

Du möchtest keinen Artikel von Christiane Mähr verpassen? Dann abonniere unseren NEWSLETTER.

Christiane Mähr,Featured,Vertrauen

Vertrauen wir uns mal selbst – dann der Zukunft

Warum wir gar nicht in die Zukunft vertrauen können, was das mit Ängsten und Sorgen, Erinnerungen und Erlebnissen zu tun hat und warum wir es selbst in der Hand haben, mutig in die Zukunft zu gehen und dabei andere an der Hand nehmen sollten.