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Zukunftspolitik

Die Politikverdrossenheit ist so groß wie nie zuvor und wird durch das Tun bzw. Nicht-Tun der Politik sogar befeuert. Wie sieht das der Bürgermeister einer 2.000-Seelen-Gemeinde im Bregenzerwald?
Grundsätzlich muss man unterscheiden, was für eine Form von Politik und auf welcher Ebene man diese betreibt. Meiner Meinung nach machen wir hier in Hittisau vor allem Gemeindearbeit und weniger Politik. Politikverdrossenheit wächst allerdings von ganz oben nach unten und somit ist sie auch bei uns in der Gemeinde zu spüren. Und es ist durchaus verständlich, dass die Bürger müde sind von der vorherrschenden Diskussionskultur in der Politik auf Bundes- und Landesebene. Andererseits muss man sagen, dass viele gar nicht mehr wissen, wie Demokratie funktioniert. Als ich zur Schule gegangen bin, gab es noch das Fach „Politische Bildung“. Diese Bildung vermisse ich inzwischen bei vielen Menschen.

Bei mir war es Teil des Geschichtsunterrichts und meinem Professor lag sehr daran, dieses Wissen zu vermitteln. Wir können hier keinen Crash-Kurs machen, aber was ist im Hinblick auf das demokratische Prinzip deiner Meinung nach entscheidend?
Demokratie setzt ein gewisses Sozialverhalten voraus. Mit dem Egoismus, den die Menschen heutzutage oft an den Tag legen, ist das leider nicht möglich. Nur über diejenigen zu schimpfen, die bereit sind, politische Verantwortung zu übernehmen, bringt uns nicht weiter. Gerade die Arbeit in einer Gemeinde umfasst unzählige Bereiche, die den Bürgern als selbstverständlich erscheinen, die aber dennoch erst einmal bewerkstelligt werden müssen. Und dafür braucht es im Vorfeld eben oft Entscheidungen in verschiedenen politischen Gremien in der Gemeindevertretung.
Mit zwei unabhängigen Fraktionen haben wir in Hittisau eine recht spezielle Konstellation. Und obwohl es nicht um Parteiinteressen geht, erleben wir immer wieder recht angespannte Situationen. Bei uns geht es immer darum, inhaltlich zu überzeugen und schlussendlich ein Miteinander zu finden. Das macht es nicht leicht, aber spannend. Von „kommunaler Intelligenz“ zu sprechen und dies auch zu verstehen sind zweierlei. Verantwortung für die Allgemeinheit und die nächsten Generationen zu übernehmen ist schlussendlich entscheidend. Eine große Persönlichkeit hat sinngemäß einmal erwähnt: Demokratie ist nicht die perfekte Staatsform, doch es gibt bis dato nichts Besseres.

Oder um es mit Winston Churchills Worten zu sagen: „Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“
Genau. Und hin und wieder braucht es auch in der Politik falsche Entscheidungen, daraus kann – oder könnte man lernen. Wenn der Mensch nie experimentiert hätte, würden wir heute noch auf allen Vieren laufen.

Entscheidungen – ob sie schlussendlich richtig oder falsch sind – hängen eng mit Gestaltungsmöglichkeiten zusammen. Wie viele hat ein Bürgermeister tatsächlich und mit welchen Grenzen hat man zu kämpfen?
Spannend, dass du von Grenzen sprichst. Ich selbst möchte nämlich Grenzen nie als solche akzeptieren. Oder sagen wir so: Natürlich gibt es Grenzen, aber dann muss man halt einen neuen Weg suchen. Und den gibt es immer. So, wie viele Wege nach Rom führen, führen viele Wege zur Umsetzung einer Vision. Das kann mühsam sein, doch es funktioniert. In den über sieben Jahren, in denen ich Bürgermeister von Hittisau bin, ist uns sehr viel gelungen, was wir uns als Vision gesetzt haben. Oft hat es länger gedauert, als wir dachten. Das Ziel haben wir dennoch meist erreicht.
Abgesehen davon bin ich überzeugt, dass die Welt nicht an den Grenzen einer Gemeinde aufhört. Soll heißen: Die Region ist wichtig, sie ist das Fundament für eine starke Gemeinde. Und im Bregenzerwald leben wir das sehr gut. Dadurch haben wir auch einen nicht zu verachtenden Einfluss, wenn uns doch mal Grenzen aufgezeigt werden wollen.

Ist das denn oft der Fall?
Nun, man muss schon sagen, dass die Überreglementierung zum Teil ein unerträgliches Ausmaß annimmt – um nicht zu sagen: wir verwalten uns zu Tode. Allerdings muss man dann halt mit den Verantwortlichen darüber reden und Gegenvorschläge unterbreiten. Schlussendlich haben wir viele Dinge erreicht, von denen wir im Vorfeld nicht einmal geträumt haben, sie umsetzen zu können.
Übrigens: Gerade im Hinblick auf gemeinwohlorientiere Angelegenheiten sind nicht alle Grenzen, die etwa vonseiten der Raumplanung oder des Naturschutzes gesetzt werden, lästig. Soll heißen: Wenn wir diese unglaubliche Kulturlandschaft erhalten wollen, die wir hier in Vorarlberg haben, dann müssen Einzelinteressen auch hin und wieder Grenzen gesetzt werden.

Ein Platz zum Nachdenken und Diskutieren: Denk.Mal (© Gemeinde Hittisau)

Du meinst, dass beispielsweise nicht mehr jeder ein Einfamilienhaus bauen darf.
Wir müssen uns die Frage erlauben, ob es noch zeitgemäß und sinnvoll ist, ein Einfamilienhaus zu bauen. Widmungsreserven lassen den Traum vom Einfamilienhaus nach wie vor zu, ob dies dem Sinne von sparsamem Umgang mit Grund und Boden entspricht, vor allem an die nächsten Generationen gedacht wird, sei dahingestellt. Die Basis unserer Lebensqualität ist nicht, dass wir gut und viel verdienen. Es ist eben unsere Kulturlandschaft und diese braucht Freiräume – sowohl in Form von freien Flächen, als auch als Dritte Orte. In Hittisau haben wir etwa den Platz „Denk.Mal“ geschaffen, der einerseits zum Nachdenken, anderseits zum Diskurs einladen soll. Es ist die Aufgabe der Bürgermeister und Gemeindevertreter, eine Basis für ein gutes Leben zu schaffen. Orte und Regionen mit guten Jobmöglichkeiten – vor allem für junge Familien und berufstätige Mütter –, besten Bildungseinrichtungen und einem guten Mobilitäts- und Konsumangebot. Bevor gebaut wird, muss die Infrastruktur vorhanden sein. Andernfalls haben wir „Schlaforte“, wo die Menschen nur schlafen, ansonsten aber keine Zeit verbringen können und wollen.

Ist es denn wünschenswert, dass eine Gemeinde ständig wächst?
Diese Frage können wir uns gar nicht stellen, denn es passiert sowieso. Zum einen gibt es noch viel Bauland, viel mindergenutzte Wohnflächen und Leerstand. Zum anderen haben wir eine entsprechende demografische Entwicklung und auch Zuwanderung. Im Hinblick auf Letztere braucht es allerdings Integration. Bei der Flüchtlingskrise 2015/2016 hat Hittisau vorarlbergweit im Verhältnis am meisten Flüchtlinge aufgenommen. Für uns war klar, dass wir alles tun müssen, die Menschen bestmöglich zu integrieren. Im Gegenzug braucht es selbstverständlich den Willen, sich zu integrieren. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, denn ich bin selbst ein „Zuagraster“. Selbst wenn ich nur aus Dornbirn gekommen bin, werde ich immer ein „Zwei-Heimischer“ bleiben und nie zum Einheimischen werden. Wäldar ka nüd jedar sin…

Sind von den damaligen Flüchtlingen auch viele „zwei-heimisch“ geworden?
Ja, etliche sind geblieben. Insbesondere die Jungen haben gute Ausbildungen absolviert und sind in der Gemeinde bzw. in den Vereinen gut integriert.

Du hast schon einige Aufgaben angesprochen, die künftig gemeistert werden müssen. Welche davon sind im Hinblick auf das Gemeinwohl am wichtigsten bzw. am dringendsten?
Ich bin davon überzeugt, dass es in unserer Verantwortung liegt, den Kindern ein gutes Umfeld und beste Bildungseinrichtungen mit den bestmöglichen Pädagogen bereit zu stellen. Genauso brauchen wir Einrichtungen, in denen die Menschen in Würde alt werden können. Und das alles muss allen Menschen zur Verfügung stehen, egal aus welchen Strukturen sie kommen. Niemand darf auf der Strecke bleiben. Jede Familie muss die Möglichkeit haben, ihr Kind bzw. ihre Kinder so früh wie möglich in die die „Spielgruppe“ bzw. Kleinkindbetreuungseinrichtung zu bringen, sodass sie möglichst früh, Sozialkompetenz erlernen können. Das nämlich ist die Basis, damit sie zu Menschen heranwachsen, die Verantwortung für sich und ihre Mitmenschen übernehmen. Exzellente Bildung kann Motivation und Freude erzeugen.

Vielen Dank, Gerhard. Schön, dass es Bürgermeister wie dich noch gibt.

 

Zur Person: Gerhard Beer

…ist parteifreier Bürgermeister von Hittisau und leidenschaftlicher Gastwirt im Betrieb seiner Frau Daniela. Der gelernte Kaufmann stammt eigentlich aus Dornbirn, wo er als Bediensteter im Rathaus erste Erfahrungen in der Kommunalarbeit sammelte. In die Politik wollte er trotzdem – zumindest nicht sofort. Der Liebe wegen zog er nach Hittisau, wurde Gemeindesekretär und -kassier, übernahm Leitungsfunktionen in verschiedenen Pflegeheimen, war Filialeiter einer regionalen Bankstelle und verkaufte außerdem in Deutschland – vorwiegend in Berlin – als selbstständiger Handelstreibender Lebensmittelspezialitäten aus dem Bregenzerwald. Anfang der 2000er-Jahre rückte der Vater von zwei mittlerweile jungen erwachsenen Kindern aufgrund eines Todesfalls in die Gemeindevertretung nach, blieb dort ein knappes Jahrzehnt, legte dann eine – Zitat – „politische Schaffenspause“ ein, bevor er 2015 von der Gemeindevertretung zum Bürgermeister gewählt wurde.
www.hittisau.at

 

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Gestaltbarkeit,Im Gespräch mit...

Ein Bürgermeister kennt keine Grenzen

Gerhard Beer ist Bürgermeister von Hittisau im Bregenzerwald (A). Er versteht, warum die Menschen politikmüde sind – doch: jammern bringe uns auch nicht weiter. Ein Gespräch über Verantwortung und Sozialkompetenz, zu überwindende Grenzen und warum jedes Kind in die „Spielgruppe“ gehen sollte.

Gastkommentare sind Beiträge, die nicht aus der Redaktion von Zukunft Neu Denken entspringen.

 

Klimawandel, Pandemien, Kriege, Versorgungsengpässe, weltweiter Transportwahnsinn, explodierende Armut, neue Arten von Fanatismus, Krisen und Katastrophen belasten zunehmend unser aller Leben. Weltweit fällt es den Menschen immer schwerer, Entwicklungen einzuschätzen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Was ist denn überhaupt richtig, was ist falsch und wer trägt heute überhaupt noch eine Verantwortung oder wird zu dieser gezogen?
Die Verantwortung für die richtigen Entscheidungen hat grundsätzlich jeder selbst zu tragen. Aber zur Verantwortung gezogen wird heute kaum mehr jemand (Ausnahme: Straftaten). Stattdessen ist es Standard geworden, dass wir die Belastungen der ausgelösten Schäden einfach auf alle – ausgenommen die „Oberen Alle“ – aufteilen und in Unwohl verweilen.
Denken wir zum Beispiel an das Thema Konsum. Jeder Erwerb eines Lebensmittels oder eines Gebrauchsgutes ist ein Produktionsauftrag. Mit unserer individuellen Produktentscheidung tragen wir Verantwortung für die dahinterliegenden Prozesse und deren Folgen für die Gesellschaft, für die Fauna und die Flora. Heutzutage weiß ein Großteil der Menschen, dass unser Konsumverhalten die Gesellschaften und den Planeten massiv demoliert. Trotzdem mäandern wir Humanoiden wie Lemminge durch übervolle Supermärkte und erteilen folgenschwere Produktionsaufträge in alle Welt. Ich denke, dass wir mit unserem Wirtschaftssystem so nicht weiterkommen. Damit komme ich zur Verantwortung der Politiker. Da gibt es allerdings auch kein Entkommen, denn: Politik sind ja wieder wir alle. Das schmerzt und deshalb blenden wir das lieber aus und maulen naiv nach oben.

Es ist höchste Zeit…

Es ist höchste Zeit für mutige Aus-Brüche aus den alten Schienen von Wirtschaft und Politik.
Es ist höchste Zeit, weltweit ein echtes ökosoziales Wirtschaftssystem anzustreben.
Es ist höchste Zeit die Menschlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen, anstatt immer nur davon zu reden, dass der Mensch im Mittelpunkt stehe. Von was denn eigentlich? Etwa im Mittelpunkt der globalen Ausbeutung?
Es ist höchste Zeit für uns alle, selbst mehr Eigenverantwortung zu übernehmen, anstatt nur über die Politiker (und andere vermeintlich Verantwortliche) zu schimpfen, denn, wie bereits erwähnt, kommen wir aus dieser Nummer nicht raus. Keiner von uns.
Es ist höchste Zeit für uns alle, die eigene Leistungsbereitschaft zu erhöhen, statt diese frustriert zurückzufahren und selbstgerecht einem dumpfen Anspruchsdenken zu huldigen. Die dümmsten Aussagen sind der unreflektierte Ruf: „Das steht mir zu.“ Oder das vertrottelte: „Geiz ist geil“.
Es ist höchste Zeit für uns alle, nicht mehr eine umfassende Versorgung mit Jobs, Nahrungsmitteln, Benzin, Sozialbetreuung und Medizin durch den Staat einzufordern, und gleichzeitig hemmungslos unser Sozialsystem mittels Scheinkrankenstände und Kuren-Tourismus – um nur zwei Beispiele zu nennen – zu plündern.
Es ist höchste Zeit, dass Politik und Wirtschaft eine gesellschaftstaugliche soziale Balance forcieren. Sie müssen dem Auseinanderdriften von wenigen Reichen und immer mehr Armen mutig entgegentreten, denn sonst sind mittelfristig blutige Auseinandersetzungen unausweichlich von Gelbwesten über Radikalisierungen aller Art bis zu Kriminalität.

Wagen wir es, Verantwortung zu übernehmen

Es ist höchste Zeit, dass wir wieder an das berühmte „halbvolle Glas“ denken und dementsprechend handeln. Damit das möglich wird, müssen wir unser Denken schützen und die Flut an Bad News und Fake News dorthin umleiten, wohin sie gehört: in den medialen Müllhaufen. Zudem gilt es, in eine bessere Bildung auszubrechen und Wissen zu vermitteln, anstatt nur Informationen zu streuen.
Es ist höchste Zeit, langfristiger nachzudenken, weil es nicht ausreicht, in den vorhandenen Gleisen neu aufzubrechen. Wir müssen gemeinsam und so richtig ausbrechen. Deshalb müssen die Politiker mit ihrem desaströsen und kurzsichtigen „Von Wahl zu Wahl“-Denken aufhören.
Im Gegenzug sollten die Wähler ihre Stimme jenen Politikern geben, die mittel- sowie langfristig denken und auch so handeln. Wiederum liegt die Verantwortung auf beiden Seiten.

Es ist höchste Zeit, im Interesse der Jugend an eine gute Zukunft zu glauben und daran zu arbeiten. Das bedeutet, Ausbrüche aus alten politischen Mechanismen und Wirtschaftsdogmen zu wagen.
Der geldgetriebene Zentralismus der globalen Konzerne ist final betrachtet in keiner Weise humaner als der politische Zentralismus sozialistischer Systeme. Globalisierung gefährdet Regionen. Wirtschaftskolonialismus vernichtet Völker – und das im Jahre 2022!
Es ist höchste Zeit für einen Ausbruch zu mehr Gerechtigkeit, für Subsidiarität und Föderalismus. Und es ist höchste Zeit, ein Wagnis einzugehen und Verantwortung zu übernehmen!

 

Über den Autor…

Dr. Matthias Ammann ist Unternehmensberater mit Fokus auf Verbandsmanagement und zeichnet im Rahmen von temporären Managementfunktionen bei mehreren Verbänden verantwortlich, (etwa im Bereich Holzbau). Das Hauptanliegen des begeisterten Netzwerkers ist eine robuste Regionalität – nicht zuletzt aus diesem Grund bemüht er sich unter anderem auch zusammen mit Gastronomen und Landwirten um eine verbesserte Kooperation im Hinblick auf lokale Nahrungsmittel.

www.matthias-ammann.eu

 

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Gastkommentar,Verantwortung

Höchste Zeit für Mut und Verantwortung

Matthias Ammann nimmt kein Blatt vor den Mund. Und das ist gut so, denn es ist höchste Zeit – für uns alle. Warum wir endlich Mut beweisen, ein Wagnis eingehen und Verantwortung übernehmen müssen.