Plattform für verantwortungsvolle und mutige Zukunftslobbyisten

Richard, du beschäftigst dich mit Zukunftsfragen der Tourismus- und Freizeitwirtschaft. Da frag ich gleich mal: Was bedeutet Zukunft neu denken für dich?
Für mich persönlich bedeutet es, immer die Augen offen zu halten: Was tut sich in meinem Umfeld, aber auch weit über meine eigene Lebenswelt hinaus, in anderen Ländern und Kulturen? Was tut sich bei den nächsten Generationen? Und was könnte das, was ich dort beobachte für mich und meine Zukunft bedeuten? Ich vergleiche das gern mit einem Schwamm, der neue Strömungen aufsaugt.
Im Tourismus ist bzw. sollte das ähnlich sein. Als Gastgeber gilt es, sich den Lebenswelten der Gäste zu öffnen. Wobei es nicht nur um die Stammgäste geht, sondern um jene Gäste, die noch nicht da sind. Warum sind sie nicht da? Welche Sehnsüchte haben sie? Und wie kann ich diese bedienen?

Doch wer sind die Gäste, die noch nicht da sind? Wie finde ich sie?
Dafür gibt es unterschiedliche Wege. Der in meinen Augen nachhaltigste Weg ist jener über die Werteebene. Das heißt: Ein Betrieb oder eine Region überlegt sich, welche Werte sie haben. Dann nämlich kann man jene Gruppen von Menschen aufspüren, die in einer ähnlichen Wertewelt leben und deren Sehnsüchte im Hinblick auf den Urlaub erfüllt werden können.

Und wie erfahren sie davon? Klassische Marketingschienen scheinen nicht mehr zu funktionieren – zumal die Gäste ja oft „überall“ zuhause sind.
Stimmt. Aber nicht nur aus diesem Grund funktionieren klassische Strategien nicht mehr. Konsumenten sind mittlerweile durch alle möglichen Medieneinflüsse extrem abgelenkt und gleichzeitig verunsichert. Täglich prasseln 10.000 und mehr Werbebotschaften auf uns ein. Dabei schenken rund 85 Prozent der Konsumenten all den Marketingversprechungen keinen Glauben mehr. Die Aufnahmekapazitäten der Kunden stoßen an die Grenzen: 98 Prozent der Informationen und Werbebotschaften verpuffen völlig. Dies trifft insbesondere für den Tourismus zu, wo die emotionalsten Kaufentscheidungen getroffen werden. Kein Wunder: Schließlich weiß man als Gast nie, ob das Produkt tatsächlich hält, was die Werbung verspricht. Daher werden Empfehlungen immer wichtiger.

Der Unternehmer muss künftig also kein Geld in Werbung stecken, sondern sich nur mehr um „König Gast“ kümmern, damit er anderen davon erzählt?
Nun, man braucht schon ein Grundrauschen an Kommunikation und einen sauberen Auftritt – online und offline. Ich würde den Gast auch nicht als König bezeichnen, weil der Unternehmer dabei in eine dienende Rolle schlüpft, obwohl er dem Gast eigentlich auf Augenhöhe begegnen sollte. Es geht viel eher um die Frage: Was kann ich als Gastgeber tun, damit der Gast eine gelungene Zeit hat? Denn Fakt ist: Der Gast ist der Botschafter und insofern wesentlich für die Markenkommunikation verantwortlich. Das trifft übrigens auf die Mitarbeiter genauso zu. Die Menschen vertrauen jenen, die schon dort waren – ob als Gast oder eben als Mitarbeiter.

Gast (© Markus Spiske; Unsplash)

Und wie findet man heraus, welche Sehnsüchte gestillt werden wollen?
Indem man selbst in die Herkunftsländer und -orte der Gäste reist, sich umsieht, wie deren Alltag ausschaut. Auf den alltäglichen Fußspuren des Gastes entdeckt man, was diese im Urlaub brauchen. Manches davon gehört komplett auf den Kopf gestellt. Beim kulinarischen Angebot sollte man hingegen durchaus mit der Zeit gehen und Food-Trends regional spezifisch interpretieren. Im Übrigen werden die Gäste in Zukunft vorwiegend aus dem urbanen Raum kommen, wo eine gewisse Individualität verloren gegangen ist. Auch diese kann man im Urlaub zurückgeben. Wobei an der Stelle betont gehört: Den einen Gast gibt es nicht. Selbst eine Familie oder ein Paar besteht immer aus unterschiedlichen Personen, die allesamt unterschiedliche Interessen haben. Zu glauben, dass man eine Zielgruppe mit einem Produkt und einer Botschaft bedienen kann, wird nicht funktionieren. Die Individualisierung der Gesellschaft ist ein großes Thema. Wenngleich das bedeutet, dass es keine Standardlösungen gibt, ist es meiner Meinung nach eine Riesenchance – gerade für kleine Betriebe.

Ernst Ferstl hat einmal gesagt: „Jede neue Herausforderung ist ein Tor zu neuen Erfahrungen.“ Was also sind weitere Herausforderungen, die Touristiker als Chance sehen sollten?
Eine der größten Herausforderungen ist schon jetzt, dass sich die Gäste im Vorfeld sehr gut über den Gastgeber, den Ort, die Region informieren. Vor Ort braucht er daher keine faktischen Informationen, die er sowieso jederzeit googeln kann oder bereits recherchiert hat. Um Gäste richtig abzuholen, sollte man auf Themen, Betriebe, Veranstaltungen usw. aufmerksam machen, die etwas Besonderes darstellen. Das kann eine kleine Alpsennerei, eine besondere Wanderroute oder ein spezieller Gastrotipp sein – um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Wer nämlich versteht, dem Gast emphatisch und hoch emotional zu begegnen, ihn mit jenen Informationen versorgt, die er tatsächlich braucht, und ein Produkt anbietet, das ihn vom Alltag abschalten lässt, hat ihn für sich gewonnen. Die Qualität des Gastgebens rückt in den Vordergrund und hier haben kleinere, familiengeführte Betriebe sicherlich einen Vorteil gegenüber großen Ketten.

Ein gutes Netzwerk aus kleineren, regionalen Betrieben ist wahrscheinlich ebenso sinnvoll.
Unbedingt. Wichtig ist jedoch, dem Gast die Wahlfreiheit zu lassen. Nicht dass er das Gefühl hat, eine To-do-Liste abarbeiten zu müssen.

Vertrauen ist für dich die wichtigste Währung. Gerade in der Tourismus- und Freizeitwirtschaft ist dieses in den letzten 2,5 Jahren allerdings eher abhanden gekommen. Was braucht es, damit sowohl Betriebe als auch Konsumenten dieses wiedergewinnen?
In erster Linie gilt es, dass die Unternehmer in das eigene Produkt vertrauen. Dafür muss es gut sein und das ist der Fall, wenn der Gast bereichert nach Hause fährt und seinen Freunden und Bekannten davon erzählt. Das aber braucht Zeit – so wie Vertrauen immer auch erst wachsen muss. Das funktioniert im Prinzip wie auf einem traditionellen Bauernmarkt – man muss in Vorleistung gehen, ausgezeichnete und authentische Produkte anbieten und dann darauf vertrauen, dass diese weitererzählt werden.

Wenn ich so darüber nachdenke, ist die Tourismusbranche eine Zukunftsbranche par excellence. Taucht der Gast im Urlaub in eine neue Welt ein, wird er zum, wie Du es nennst, alles aufsaugenden Schwamm. Zurück im Alltag kann er davon erzählen und trägt insofern auch dazu bei, dass andere Menschen sich ebenfalls neuen Dingen gegenüber öffnen und sich somit mit der Zukunft auseinandersetzen – unter anderem in jenem Betrieb, dessen Botschaft der Gast nach außen getragen hat.
Richard, ich danke dir für diesen interessanten Blick in die Welt des (Zukunfts-)Tourismus.

Richard Bauer (© Weinwurm Fotografie)
Richard Bauer (© Weinwurm Fotografie)

Zur Person: Mag. Richard Bauer

… ist seit über 25 Jahren im Tourismus tätig, setzt sich im vertrauensvollen Austausch zusammen mit seinen Kunden mit Zukunftsfragen der Tourismus- und Freizeitwirtschaft auseinander und berät sie hinsichtlich strategischer Ausrichtung, Marketingstrategien und wirtschaftlicher Perspektiven. Er hält außerdem Vorträge, ist Lektor an Hochschulen, Buchautor und Gerichtssachverständiger für Hotellerie, Fremdenverkehrseinrichtungen und Tourismusorganisationen.
www.richardbauer.at

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weiter neu denken

Zum Jahresabschluss habe ich mir in einem Feedbackgespräch mit unserer Geschäftsführung gewünscht, dass ich im kommenden Jahr wieder mehr neues lernen möchte. Meinen Horizont erweitern und neue Perspektiven gewinnen möchte. Wer die Zukunft gestalten will, der muss offen für Neues sein – Neues aufsaugen, aufnehmen, inhalieren, die Dinge neu formen. So in etwa stellte ich mir das für 2023 zumindest vor. Irgendwie lebendig, aktiv und vorwärts.
Doch während der Feiertage bin ich in den inneren Diskurs gegangen. Das Jahr 2022 war für mich – um es in einem Wort zu sagen – voll. Voll im Sinne des sprichwörtlichen Fasses, dass nicht nur droht überzulaufen, sondern dies auch tat. Und so war mir plötzlich klar, dass mein Wunsch für 2023 nicht darin besteht, dieses bereits volle Fass weiter aufzufüllen. Vielmehr wünsche ich mir für das anstehende Jahr ein halb volles Fass – wobei die Betonung auf voll liegt, denn halb leer ist keine Option für mich.

Braucht es wirklich mehr?

Ich bin davon überzeugt, dass es viel positiver Energie von uns allen bedarf, eine gute und glückliche Zukunft zu gestalten. Doch wie soll das gehen, wenn wir ständig kurz vor dem Überlaufen stehen? Brauchen wir tatsächlich immer noch mehr Neues? Müssen wir uns wirklich kontinuierlich neues Wissen aneignen? Ist es sinnvoll bzw. erstrebenswert, im Hamsterrad von mehr, mehr und nochmals mehr zu bleiben? 
Meiner Meinung nach nein. Nicht höher, weiter und schneller sollte die Prämisse sein, sondern partizipativer, sinnhafter und empathischer. Achtsamer im Umgang mit unseren Ressourcen – unseren eigenen, die unserer Mitmenschen und die der Erde. Wir stehen vor großen Herausforderungen. Doch müssen wir Neues lernen, um diese Herausforderungen zu meistern und zu bestehen.

Verlernen, um zu lernen

Ich habe meine Zweifel und frage mich, ob wir nicht lieber verlernen sollten? Ein Verlernen von Glaubenssätzen, von Paradigmen, von „das haben wir schon immer so gemacht“. Können wir durch aktives Verlernen Raum für neue Perspektiven schaffen, Bilder einer Zukunft, die frei von den Grenzen der eigenen erlernten Kultur ist? Frei von den Grenzen im Denken der Möglichkeiten?
Je mehr ich darüber nachgedacht habe (und nach wie vor nachdenke), umso einfacher erscheint es mir, Neues zu lernen, als Bestehendes und Gewohntes zu verlernen. Und wer weiß: Vielleicht bietet gerade das Verlernen bzw. der Prozess des Verlernens ungeahnte Möglichkeiten für Veränderungen, Wandel und neue Erfahrungen?
Für mich ist Lernen Gegenwart. Verlernen ist Zukunft. Und lernen zu verlernen, um dabei zu lernen, ist Zukunftsgestaltung.

Über die Autorin…

Janina Clever leitet als Industrie Designerin bei Generationdesign in Wuppertal komplexe Design- und Strategieprojekte. Die studierte Arbeits- und Organisationspsychologin setzt auf nachhaltigen Mehrwert und Nutzen, der durch agile und interdisziplinäre Austauschformate und Arbeitsmethoden entsteht. Dabei sieht sie in der Fusion von digitalen und realen Formaten für die Zukunft noch unentdeckte Potenziale. Janina Clever ist außerdem Teil des Zukunftsrates von Zukunft Neu Denken.

 

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Müssen wir lernen zu verlernen?

Lebenslanges Lernen ist in aller Munde. Janina Clever aber fragt sich: Müssen wir tatsächlich immer mehr wissen? Oder sollten wir nicht lieber lernen zu verlernen?

2.562 Menschen starben 2021 auf Deutschlands Straßen, in Österreich waren es 359. In den meisten Fällen sind diese auf nicht angepasste Fahrgeschwindigkeit, Unachtsamkeit bzw. Ablenkung und Vorrangverletzung zurückzuführen. Mit anderen Worten: Verkehrsunfälle haben meist eines gemeinsam – nämlich menschliches Fehlverhalten. Und das lässt sich ändern. Schon durch das Einhalten von Tempolimits und sonstigen Vorschriften sowie durch kontrolliertes und achtsames Fahren könnte dazu beigetragen werden, dass sich die Zahl der Verletzten und Toten im Straßenverkehr deutlich reduziert. Und nicht zuletzt könnte jeder einzelne für die eigene Sicherheit sorgen. Denn Tatsache ist: Hinter jedem Steuer stecken Menschen und Geschichten.

Crash-Kurs

In der Verkehrspolitik spielt das Thema Verkehrssicherheit europaweit eine wichtige Rolle. So wurden beispielsweise Maßnahmen festgelegt, um bereits bei der Fahrzeugherstellung besonders gefährliche Stoffe zu vermeiden und die Wiederverwendung sowie Verwertung von Fahrzeugen mit Totalschaden und deren Bauteile zu intensivieren. Ein von der Versicherung festgestellter (wirtschaftlicher) Totalschaden bedeutet also nicht automatisch, dass das Fahrzeug Schrott ist. Schließlich besteht ein Auto aus rund 10.000 Einzelteilen, die von Hersteller zu Hersteller unterschiedlich sind. Universal-Teile gibt es nicht, was ein Crash-Fahrzeug in gewisser Weise zum begehrten Ersatzteillager macht. Das am häufigsten ausgebaute Ersatzteil, bevor ein Auto verschrottet wird, ist übrigens der Katalysator, in dem sich unter anderem seltene Metalle befinden.

Eine Frage der Mobilität

Die Frage aber ist nicht nur, was passiert mit geschredderten Fahrzeugteilen – die werden sortiert und weiterverarbeitet. Sondern auch: Was passiert mit dem Menschen, der hinter dem Steuer gesessen hat – egal, ob sein Auto aufgrund eines Unfalls auf dem Schrottplatz gelandet ist oder schlichtweg, weil es nicht mehr zugelassen werden konnte? Steht das neue, noch größere, noch schnellere, noch bessere Fahrzeug bereits in der Garage? Oder setzt man auf einen kleineren Straßenflitzer, auf E-, Hybrid- oder eine andere Alternative? Oder kommt man sogar ohne Auto durchs Leben? Steigt man möglicherweise auf ein motorisiertes Zweirad um oder tritt man gar in die Pedale? Und wie schaut es mit den Öffis aus?
Um all die Fragen auf einen Punkt zu bringen: Was braucht es, damit Mobilität in Zukunft anders gedacht wird bzw. werden kann?

 

Über den Fotografen

Die Bilder wurden von Bence Szalai aufgenommen. Der Fotograf und Filmemacher möchte den Blick des Betrachters auf die Details lenken. Er sieht seine Arbeit als das Radio, den Schallplattenspieler oder den Lautsprecher, über den die Musik abgespielt bzw. gehört wird und dessen Qualität das Hörerlebnis maßgeblich beeinflusst.
www.rnbpictures.com

 

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Nur ein Kratzer: Mobilität nach dem Schrottplatz

Hinter jedem Steuer steckt eine Geschichte. Warum ein Crash-Car mehr als nur Schrott ist und wieso wir Mobilität neu denken sollten. Eine Fotostrecke von Bence Szalai.

Im Kreuzworträtsel hat das Vertrauen in die Zukunft acht, manchmal zehn Buchstaben. Im echten Leben benötigen wir dafür wesentlich mehr Buchstaben. Und immer öfter fehlen uns die Worte, wenn es darum geht, vertrauensvoll in die Welt von morgen zu schauen. Das zeigte etwa eine im Frühjahr 2022 vom SORA-Institut durchgeführte Umfrage unter rund 24.000 jungen Österreichern zwischen 16 und 25 Jahren. Diese nämlich ergab, dass es nicht gerade zum Besten steht mit dem Vertrauen in die Zukunft. Vor allem der Krieg in der Ukraine (84 %) bereitet der Generation Z Sorgen, aber auch der Klimawandel (67 %), die immer breiter werdende Schere zwischen Arm und Reich (59 %) sowie Pandemie und Wirtschaftskrise (jeweils 55 %). Dass dabei nur wenig Vertrauen in die Zukunft aufkommt, habe laut Umfrage insbesondere damit zu tun, dass wir bei den großen Zukunftsthemen – von der zunehmenden ökonomischen Ungleichheit über den Klimawandel bis hin zur Pflegeproblematik, Energiewende und Bildung – schlecht unterwegs sind. Wobei mit „wir“ eigentlich die Politik gemeint ist, denn diese handle schon seit Jahren zu kurzfristig und zu populistisch, sind 88 % der Befragten überzeugt.
Dass auch andere Generationen – ob Y, X, Babyboomer oder wie sie sonst noch so heißen – eher misstrauisch in Richtung Zukunft schielen, bedarf wohl keiner weiteren Umfragen. Doch wäre es zu kurz gedacht, den politischen Entscheidungsträgern den schwarzen Peter zuzuschieben, sich zurückzulehnen und abwartend Däumchen zu drehen. Zum einen, weil es nicht so ausschaut, als würde sich die Politik alsbald und voller Tatendrang um die anstehenden Herausforderungen bemühen. Und zum anderen ist es nicht nur Aufgabe der Politik, sich um Lösungen für die aktuellen Probleme zu bemühen. Dessen sind sich die Jungen übrigens durchaus bewusst: So sind 71 % der Meinung, dass wir alle unseren Lebensstil verändern müssen, um beispielsweise den Klimawandel zu bekämpfen.

Es liegt an uns selbst

Dass wir das Ruder selbst herumreißen, Verantwortung übernehmen und mutig (voran)gehen können, stimmt positiv – zumindest mich. Eine entscheidende Rolle spielt dabei allerdings das Vertrauen. Dieses sorgt nämlich unter anderem dafür, dass wir uns wohlfühlen und zuversichtlich sind. Was aber, wenn man sich eben hinsichtlich der Zukunft mit dem Vertrauen schwertut? Wie soll man Zuversicht schöpfen, wenn einen nur mehr Sorgen und Ängste plagen? Wie soll man sich wohlfühlen, wenn sich alles nur noch schlecht anfühlt?
Was das Wohlbefinden angeht, sollten wir wissen, dass dieses weniger mit dem zusammenhängt, was kommt, als vielmehr mit dem, was ist und was war – also mit den aktuellen Erlebnissen sowie mit unseren Erinnerungen. In seinem Weltbestseller „Thinking, Fast and Slow“ beschreibt der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann unter anderem das Konzept der zwei Selbste: So haben wir ein erlebendes Selbst, das sich andauernd mit der Frage beschäftigt: „Fühle ich mich gerade wohl oder tut es weh?“ und zugleich ein erinnerndes Selbst, dass die Frage beantwortet: „Wie war es im Großen und Ganzen?“ Kahnemann ist mittlerweile davon überzeugt, dass das eigene Wohlbefinden nicht nur damit zu tun hat, wie es uns mit dem, was wir gerade erleben, geht, sondern dass wir immer auch Urteile und Bewertungen über das bereits Erlebte einfließen lassen. Oder um es mit seinen Worten zu sagen:

„Wir müssen uns mit der Komplexität einer hybriden Sichtweise abfinden, bei der das Wohlbefinden beider Selbste berücksichtigt wird.“

Gehe ich nun davon aus, dass mein Wohlbefinden in der Zukunft sowohl davon abhängt, was ich in Zukunft erleben werde, als auch davon, was ich in der Vergangenheit erlebt habe, dann sollten wir doch alles daransetzen, heute schon positive Erinnerungen zu schaffen, sodass wir morgen eine Welt haben, in der wir uns wohlfühlen können.

Vertrauen lernen

Soweit so gut. Um das Vertrauen in die Zukunft steht es trotzdem noch nicht besser bestellt? Das mag daran liegen, dass wir in die Zukunft gar nicht vertrauen können. Nicht, weil sie sich chaotisch, alles andere als planbar und sicher präsentiert, uns im Gegenteil Rätsel aufgibt und die eine oder andere Sorgenfalte beschert. Das ist eine Tatsache, die wir akzeptieren und mit der wir leben müssen. Der Grund, warum wir der Zukunft nicht vertrauen können, ist, dass Vertrauen immer mit Menschen zu tun hat – mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen, vom engsten Familienkreis über entfernt Bekannte bis hin zur Gesellschaft generell. Sowohl das Selbst- als auch das Vertrauen gegenüber anderen ist eng mit Erfahrungswerten verbunden. So haben wir beispielsweise schon früh gelernt, ob wir auf uns selbst und unseren Fähigkeiten und/oder auf andere Menschen bauen können. Vertrauen ist folglich eine erlernte Entscheidung. Und das ist gut, denn somit liegt es erstens an uns, ob wir vertrauen oder nicht. Und zweitens können wir es wieder lernen – sofern uns das Vertrauen abhandengekommen ist.

Hoffnungsvoll ins Morgen

Wenn wir vom Vertrauen in die Zukunft sprechen, geht es also darum, den eigenen Fähigkeiten als auch anderen Menschen zu vertrauen und darauf, dass man gemeinsam den Weg meistern wird. Es gilt, (wieder) Zuversicht zu erlangen und sich beim Gedanken an die Welt von morgen wohl zu fühlen. Das lässt die Hoffnung auf eine gute Zukunft immer noch nicht wachsen, schließlich – so das allgemeine „Totschlagargument“ – weiß niemand, was kommen wird. Befasst man sich aber genauer mit dem Thema Vertrauen, schaut die Sache anders aus.
Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858-1918) beschrieb Vertrauen als einen Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen, eine „Hypothese künftigen Verhaltens“, auf die wir konkretes Handeln gründen. Wer vertraut, geht also bewusst und im guten Glauben davon aus, dass man selbst und/oder die Mitmenschen sich so oder so verhalten und dass sich in der Folge eine Sache so entwickelt, wie es versprochen wurde oder wie man es erhofft hat. Ob diese dann tatsächlich so eintritt, ist eine andere Sache und für den ersten vertrauensvollen Schritt gar nicht entscheidend. Viel wichtiger ist, dass wir Vertrauen als ein reißfestes Band begreifen, an dem wir uns auf dem Weg ins Neue, Unbekannte – oder eben in die Zukunft – anhalten und orientieren können, sogar dann, wenn Umstände (noch) unsicher erscheinen. Genauso aber sollten wir uns auch darüber im Klaren sein, dass sich Vertrauen ungeheuer schnell und durch kleinste Dinge zerstören lässt.

Was und wen bringst du mit?

Inwiefern wir anderen Menschen vertrauen (können), ist freilich so eine Sache. Doch uns selbst können oder vielmehr müssen wir auf jeden Fall vertrauen. Mit Blick in die Zukunft bedeutet das, sich seiner Fähigkeiten und Begabungen, seiner Charaktereigenschaften, seiner Werte und Haltungen bewusst zu werden. Diese sind sozusagen die Werkzeuge, die uns helfen, Situationen im Jetzt, aber auch im Morgen zu meistern und anstehende Aufgaben zu lösen.
Also: Über welche Fähigkeiten und Kompetenzen verfügst du? Was kannst du gut? Was kannst du, was viele andere nicht (so gut) können? Welche Kenntnisse und Leidenschaften treiben dich an? Worüber möchtest du immer mehr wissen? Was weckt deine Neugier, deinen Wissensdrang? Womit beschäftigst du dich intensiv – mehr als die meisten Menschen? Welche Werte vertrittst du? Welche Werte sind dir wichtig? Was gibt deinem Leben Sinn und Richtung? Welche Stärke macht dich aus, für welche Tugend stehst du, welche besondere Eigenschaft verkörperst du?
Neben all dem, was wir selbst mitbringen, kommt es auf Beziehungen, auf Gruppen und Gemeinschaften an, denen wir angehören. Womit wir wieder bei den Mitmenschen wären. Denn Tatsache ist: Gemeinsam können wir besser für unsere Interessen eintreten, uns gegenseitig motivieren und uns durch gegenseitiges Vertrauen stärken. Spätestens dann kennen wir des (Kreuzwort-)Rätsels Lösung und wissen, dass „Vertrauen in die Zukunft“ Hoffnung oder Zuversicht oder noch besser beides zusammen bedeutet.

 

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Christiane Mähr,Featured,Vertrauen

Vertrauen wir uns mal selbst – dann der Zukunft

Warum wir gar nicht in die Zukunft vertrauen können, was das mit Ängsten und Sorgen, Erinnerungen und Erlebnissen zu tun hat und warum wir es selbst in der Hand haben, mutig in die Zukunft zu gehen und dabei andere an der Hand nehmen sollten.