Dein neues Buch heißt „Medizin verändern“. Sollten sich nicht auch die Menschen verändern – im Sinne von „Gesundheit neu denken“ und Eigenverantwortung übernehmen?
Ich habe ja schon vor Jahren „Den kleinen Medicus“ bewusst als Abenteuergeschichte geschrieben – in dem Verständnis, dass jeder von uns ein kleiner Medicus, eine kleine Medica ist. Und es ist mein grundsätzlicher Ansatz, dass wir Menschen als Patienten diejenigen sind, die am besten wissen, wo der Schuh drückt, was uns die Beine wegzieht, was uns Magenschmerzen bereitet, was uns Angst macht. Ärzte und Therapeuten sind Gehilfen, Medikamente, Operationen und medizinische Geräte sind Hilfsmittel. Medizin verändern bedeutet also einerseits das System zu verändern. Andererseits sind wir das eben selbst und so braucht es Selbstwahrnehmung, Selbstgestaltung und Offenheit gegenüber anderen Menschen, aber auch dem System gegenüber. Wir Menschen sind somit mittendrin in der Medizin und Teil eines Systems, das wir mitgestalten. Wir nehmen es allerdings nicht so wahr.
Und leider geben viele die Verantwortung ab, sobald sie eine Praxis, ein Krankenhaus betreten.
Ja, wir „hängen“ uns sozusagen „an der Garderobe ab“. Wir glauben sogar, dass eine Vorsorgemedizin, die Prävention, in unserer medizinischen Versorgung und den Gesundheitssystemen weltweit bereits praktiziert wird, weil es immer wieder Tenor von politischen Ankündigungen ist. Wenn man allerdings schaut, welche medizinischen Systeme vorsorgend arbeiten, muss man ganz weit zurückgehen und landet etwa bei den alten Chinesen. Dort wurde ein guter Arzt dafür bezahlt, Krankheiten zu verhindern, ein schlechter Arzt wurde nicht mehr bezahlt und entlassen. Dieses geschichtliche Wissen unserer Vorfahren tragen wir eigentlich in uns und somit auch in die Medizin hinein. Nur leider hat kaum jemand mehr dieses Verständnis. Oder wir haben es vergessen und kümmern uns immer mehr um Kosten und Einsparungen.
Heilung braucht folglich immer das Wechselspiel zwischen Arzt und Patient.
Mein Credo ist: Die Medizin der Zukunft ist eine Medizin auf Augenhöhe zwischen Arzt bzw. Therapeut und Patient. Das Zweite ist: Zuhören und verstehen, dass man ganz viel vom Patienten lernen kann. Ich habe in meiner mittlerweile über 40-jährigen Praxis so viel von meinen Patienten gelernt. Wenn ich zuhöre, erfahre ich, welche „Laus dem Patienten über die Leber gelaufen ist“, wie er sein Leben lebt, warum er traurig ist, wie sich seine Schmerzen zeigen, und wie er sich möglicherweise mit ganz anderen Methoden selbst heilt als diejenigen, die ich bisher kennengelernt habe. Jeder Mensch ist individuell, aber nur wenn ich mit ihm spreche, erfahre ich das.
Die Ärzte müssten also aus dem System ausbrechen und sich die Zeit nehmen.
Ja, wir müssen uns Wege schaffen, wie wir aus dieser Falle wieder herauskommen. Ich hatte das seinerzeit für meine Institute derart gelöst, dass ich schon vor gut 20 Jahren mit den Kassen eine Paketlösung bei der Behandlung von Rückenbeschwerden ausgehandelt habe. Darin ist immer ein langes Erstgespräch inbegriffen. Das ist nicht von heute auf morgen passiert, hat mich viel Energie gekostet, aber es hat funktioniert und funktioniert nach wie vor – auch in den aktuell bestehenden Systemen, die ja verständlicherweise alle auf Einnahmen angewiesen sind. Doch dazu braucht es halt ebenso Wertschätzung und zwar auf allen Seiten.
Um noch einmal auf die Eigenverantwortung zu kommen: Wie kann den Menschen klar gemacht werden, dass sie selbst für ihre Gesundheit verantwortlich sind? Ich glaube nämlich, dass sich viele dagegen wehren und doch lieber dem „Gott in Weiß“ die Heilung überlassen.
Auf zwei Ebenen. Einerseits muss die medizinische Ausbildung erweitert werden – um die Aspekte der Psychosomatik, der seelischen Gesundheit, aber auch der Naturheilkunde, ebenso der High-Tech und Umweltmedizin und um das Pro und Kontra der verschiedenen Ansätze. Außerdem sollte sich jeder angehende Mediziner ehrlich die Frage beantworten: Warum mache ich Medizin? Welche Bedeutung hat Medizin für mich, das Leben und das Wohlbefinden – in der Medizin sollte es nämlich vor allem um Wohlbefinden gehen. Nicht jeder ist oder wird gesund. Denn chronisch kranke Menschen etwa möchten sich genauso wohlfühlen. Weiters müssen wir uns von Anfang an damit beschäftigen und inhaltlich auseinandersetzen, dass der Tod zum Leben gehört und uns folglich auch mit Spiritualität bzw. philosophischen, teils theologischen Fragen beschäftigen.
Auf der anderen Seite braucht es eine Auseinandersetzung mit der Frage: Mit welcher Haltung gehe ich auf denjenigen zu, der von mir Hilfe erwartet? Das hat mit Humanismus zu tun und damit, wie ich dem Leben und der Gesellschaft, den Menschen und der Natur gegenüberstehe. Dann kann ich den Patienten auch zur Eigenverantwortung, zum lebenslangen Lernen und Selbsthilfe motivieren. Eigenverantwortung, individuelle Medizin? Das wäre es! Aber zurzeit existiert das hierarchische System – oben der Arzt, unten der Patient. Und daher passiert nichts.
„Eigenverantwortung auf Rezept“ bzw. medizinische Anweisung sozusagen.
Stimmt. Ich fordere deshalb auch die Schulen schon seit fast 30 Jahren auf, Kinder und Jugendliche zu Gesundheitsbotschaftern auszubilden. Ich habe mit meiner Stiftung viele Projekte zur Prävention von Krankheiten und zur Gesundheitsförderung unterstützt, wobei sich viele davon speziell an Kinder und Jugendliche gerichtet haben. In meinen Augen nämlich ist es unglaublich wichtig, dass Kinder von klein an ein Gesundheitswissen haben, dass sie sich selbst kennenlernen, das Verhältnis von Körper und Seele verinnerlichen, dass sie wissen, welche Hausmittel ihnen zur Verfügung stehen und wie sie diese anwenden können – in der Vorsorge sowie in der Heilung. Welche Rolle spielt Kamillentee, aber genauso was sind Antibiotika und worauf muss man dabei achten? Was mache ich um mein Immunsystem zu stärken? Was können Bewegung und Sport bewirken – von der Aktivierung des Stoffwechsels bis hin zum Abbau von Aggressionen?
Also eigentlich sind die Methoden einfach – wirklich. Gesundheitsbildung ist in meinen Augen auch ein wesentlicher Teil der Zukunft der Medizin. Aber doch so schwer.
Weil die Menschen halt im gelernten System stecken.
Du hast das ja in einem Artikel so schön geschrieben: Man will nicht aus der Höhle heraus.
In deinem neuen Buch beschreibst du einige neue, mutige Wege, die die Medizin einschlagen muss, um zukunftsfähig zu bleiben bzw. zu werden. Welche davon sind die für dich wichtigsten?
Wollen wir eine Medizin auf Augenhöhe, die auf Vertrauen setzt, dann muss die Ärzteschaft von den Patienten und vor allem vom Pflegepersonal lernen. Krankenschwestern nämlich sind nah am Menschen dran und haben in den meisten Fällen auch aus diesem Grund ihren Beruf gewählt: Weil sie sich den Menschen emotional nah fühlen und weil sie wissen, dass sie heilsam sein können. Bei der Ärzteschaft ist das leider nicht immer der Fall. Überspitzt könnte man sagen: Die mit guten Schulabschlüssen werden Ärzte, obwohl sie es oft nicht aus einer inneren Haltung heraus machen, die aber ist gerade in der Medizin so unglaublich wichtig. Ich habe in meinem Berufsleben schon so viel vom Pflegepersonal gelernt und habe über sie sehr viel von meinen Patienten erfahren.
Das Pflegepersonal könnte ja das Sprachrohr sein – für Patienten und für Ärzte.
Ich plädiere schon lange für ein System, das die Hausarztpraxen stärkt und die dort tätigen Personen zu Co-Piloten und Gesundheitsmanager macht. Die Hausärzte agieren darin auch als Präventologen und stärken die Menschen somit in Vorsorge und Eigenverantwortung. Außerdem braucht es in jeder Praxis eine Krankenschwester bzw. einen Pfleger, die oder der die Brücke zum Patienten schlägt. Hausarzt und Krankenschwester, das ist für mich das Dream-Team, das gemeinsam für das Wohl des Patienten arbeitet. Fakt ist: Die Menschen wissen heutzutage nicht, an wen sie sich wenden sollen und sind zunehmend verunsichert. Außerdem werden wir es in Zukunft öfters mit Epidemien und Pandemien zu tun haben, multiresistente Keime werden ein immer größeres Problem darstellen, Volkskrankheiten wie Diabetes, koronare Herzerkrankungen, Adipositas usw. zunehmen. Hinzukommen Digitalisierung, Medien usw., die einmal mehr zur allgemeinen Überforderung beitragen. In so einem Umfeld braucht es dringend eine Person des Vertrauens. Und das ist in meinen Augen der Hausarzt und die Krankenschwester.
…die aber so schon viel arbeitet und „nichts“ verdient.
Stimmt. Daher und auch weil wir beispielsweise in Deutschland in naher Zukunft rund 500.000 Krankenschwestern und Pfleger brauchen, muss der Beruf aufgewertet und attraktiver werden –inhaltlich und finanziell. Sofort. In Deutschland fordere ich sofort Brutto als Netto-Auszahlung (also keine Steuer mehr abziehen) für begrenzte Zeit einführen bis das System eine neues Finanzierungsmodell festgelegt hat.
Wie viel Hoffnung hast du, dass das tatsächlich passiert?
Bei den Jungen ist durchaus ein Umdenken zu spüren. Sie haben zwar noch wenig Einfluss, aber der wächst. Da passiert doch eine ganze Reihe, auch wenn es ein weiter Weg ist. Daher braucht es kleine, regionale Schritte. Wenn sich die Menschen in Netzwerken zusammentun, ist vieles möglich. Ich habe das ja selbst erlebt – bei den Verhandlungen mit den Krankenkassen, bei Schulprojekten, bei der Mikrotherapie. Heute wird meine Methode weltweit nachgefragt, obwohl sie, als ich Mitte der 1980er Jahre damit angefangen habe, von Orthopäden, Chirurgen usw. bekämpft und die Mikrotherapie, also die Behandlung beispielsweise von Bandscheibenvorfällen oder Tumoren mit Mikroinstrumenten im Computertomographen oder MRTs, als Hokuspokus bezeichnet wurde.
Können auch Patienten etwas bewirken, sodass die Medizin wieder menschlicher wird?
Ja, jeder kann das. Beispielsweise kann sich jeder, der zum Arzt geht, drei Fragen aufschreiben, die er auf jeden Fall beantwortet haben möchte, bevor er wieder zur Tür hinausgeht. So zwingt man dem Gegenüber ein Gespräch auf – und bei all dem Zeitdruck, der von der anderen Seite kommen mag: Wir bezahlen ja dafür. Wenn wir in ein Geschäft gehen, wollen wir Beratung und beste Qualität. Warum fordern wir die nicht auch beim Arzt ein?
Oder man wendet sich an den Sachbearbeiter der Krankenkasse, beispielsweise wenn bestimmte Leistungen nicht von der Kasse bezahlt werden. In Deutschland etwa müssen Frauen, die Kosten für eine Früherkennungsmammografie selbst tragen, sofern diese nicht in Screening-Zentren stattfindet. Das ist doch absurd. Warum fragen wir nicht nach: Wieso muss ich selbst bezahlen? Wie kann man das ändern? Was kann ich tun? Kann ich mich zusatzversichern? Zum Beispiel für Naturmedizin, Psychosomatik, Krankenpflege etc.! Daher plädiere ich übrigens schon lange für eine „Priva-Setzliche“ Versicherung: gesetzlich grundversichert und privat zusätzlich in die individuelle Gesundheit investieren.
Wir sind also nicht hoffnungslos. Wir müssen nur die Möglichkeiten nutzen, die wir haben. Und wir sollten sofort damit anfangen, denn der Umbau des Systems kann nur in kleinen Schritten erfolgen. Wenn wir uns aber alle zusammentun, in Teams denken und arbeiten, Kostenträger und Investoren ins Boot holen, auf Prävention und auch Umweltmedizin setzten, können wir alle gemeinsam die Medizin von morgen verändern. Zu einer Spitzenmedizin für alle.
Vielen Dank für das wunderbare Gespräch, Dietrich. Und vor allem auch noch nachträglich alles Gute zum Geburtstag – gesund bleiben 😉
Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer (© Laura Möllemann)
Zur Person: Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer
…ist Arzt und Autor, Vordenker und Vorkämpfer, Wissenschaftler und Wegbereiter. In all seinem Tun geht es dem Bochumer Radiologen und Begründer der „Mikrotherapie“ (mikro-invasive Behandlung mit Hilfe von tomographischen Sichtmethoden insbesondere von Rückenschmerzen und Krebs) darum, Voraussetzungen für ein gesundes, wohlbefindliches und zufriedenes Leben für jeden Menschen zu schaffen. Der Gründer des interdisziplinär arbeitenden Grönemeyer Instituts in Bochum und anderen Standorten in Deutschland engagiert sich außerdem für einen bewussteren Umgang mit den Themen Gesundheit, Ernährung, Prävention, Digitalisierung sowie Spitzenmedizin und Spitzenforschung. Sein Ziel: Hightech-Schulmedizin und Naturheilkunde, Psychosomatik, Sozial- und Umweltmedizin als eine Einheit im Sinne einer humanen Humanmedizin zu vereinen. Er prägte den Begriff „Weltmedizin“ dafür. Am 12. November feierte Dietrich Grönemeyer seinen 70. Geburtstag.
www.groenemeyerinstitut.de
www.heilpflanzenwelt.de
www.worldmedicine.eu
Buchtipp: MEDIZIN VERÄNDERN – Heilung, Humanität und Innovation
Der Dreiklang für gute Gesundheit und ein menschenwürdiges und zukunftsorientiertes Gesundheitswesen.
In seinem neuesten Buch (erschienen im Verlag Ludwig) präsentiert Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer umfassende Aufklärung und weitsichtige Maßnahmen, damit der dringend notwendige Strukturwandel im Gesundheitswesen gelingt, und Medizin zu einer würdevollen Heilkunst zwischen HighTech und Naturheilkunde, zwischen Psychosomatik und Umweltmedizin wird.
www.medizinveraendern.de