Neugier ist der Hunger nach Wissen in Kombination mit der Bereitschaft, sich überraschen und auf Neues einzulassen. Gleichzeitig verunsichert das Unbekannte viele Menschen. Sind es also die „neugierigen Draufgänger“, die mit der ungewissen Zukunft kein Problem haben?
Das glaube ich nicht. Schon alleine, weil Verunsicherung gut ist, da sie ein Zeichen für Wachsamkeit ist. Wobei es natürlich auf das Maß ankommt und ob man die Verunsicherung in konstruktive Bahnen lenken kann, sodass sie zu einer Form der Zukunftsachtsamkeit wird. Jim Collins (US-amerikanischer Managementexperte, Anm.) hat sich beispielsweise Unternehmen und deren CEOs angeschaut, die gut durch Krisen gekommen sind. Er wollte herausfinden, ob es ein gemeinsames Charakteristikum gibt. Und es hat sich gezeigt, dass es weniger die reinen Visionäre waren, sondern vielmehr jene, die eine produktive Paranoia an den Tag gelegt haben. Damit ist gemeint, dass erfolgreiche CEOs immer Angst haben, etwas zu verpassen, und deshalb ihre Warnantennen pausenlos ganz weit ausgefahren haben. Sie lassen sich durch Warnungen und potenzielle Gefahren allerdings nicht lähmen, sondern sind im Gegenteil produktiv, stellen Hypothesen auf, die dann verifiziert oder falsifiziert werden.
Wir sollten uns also auf die Suche nach Lösungen machen. Kann uns dabei die sogenannte epistemische Neugier helfen? Schließlich ist sie laut Psychologe Daniel Berlyne wissensbezogen.
Die epistemische Neugier ist eine Art Forscherdrang, der uns dazu bringt, aus Unwissen Wissen zu machen. Insofern unterscheidet sie sich massiv von dem, was man im Allgemeinen unter Neugier versteht – also beispielsweise den neuesten Klatsch und Tratsch erfahren zu wollen. Bei der epistemischen Neugier werden Fragen gestellt und ständig hinterfragt, bis man schlussendlich zum Kern kommt.
Aber ist es nicht auch so, dass wir oft das Interesse verlieren, wenn wir etwas verstanden haben, wenn also die Neugier gestillt ist? Und könnte man folglich – und zugegeben etwas überspitzt – sagen: Wüssten wir, was die Zukunft bringt, hätten wir gar kein Interesse am Morgen?
So einfach ist es nicht (lacht). Unsere Neugier wird dann entfacht, wenn etwas einerseits neu ist und wir andererseits einen Bezug dazu herstellen können. Stehen wir zum Beispiel in einem Museum für moderne Kunst vor einem Bild mit einem Farbklecks, ist das zwar neu, aber es erschließt sich uns meist nicht. Wird mir allerdings erklärt, warum der Künstler diesen Farbklecks gemacht hat, was er damit assoziiert, kann es auch für mich plötzlich interessant werden. Mit der Zukunft ist das nicht anders.
Angenommen ich habe einen Bezug zur Zukunft: Inwiefern kann mir der eigene Wissensdrang helfen, mich im – trotz allem – ungewissen Morgen zurechtzufinden?
Neugierige, wissbegierige Menschen kommen sehr viel leichter durch unsichere Zeiten. Schon alleine, weil sie schneller ins Tun kommen, sich – wenn es sein muss – verändern, neu aufstellen. Sie akzeptieren neue Situationen, auch wenn sie noch so mies sein sollten. In der Resilienzforschung nennt man das radikale Akzeptanz. In der Neugierforschung sprechen wir von Anspannungstoleranz: Neugierige Menschen halten Unsicherheiten besser aus und haben mehr Zuversicht, Probleme zu lösen. Außerdem legen sie eine Entdeckerfreude an den Tag – sie wollen wissen, wie es hinter dem Horizont ausschaut. Der Antrieb durch Wissenslücken spielt ebenfalls eine sehr wichtige Rolle. Dabei kommt ein biochemischer Prozess im Gehirn zum Tragen. Wenn wir zum Beispiel ein Rätsel lösen, wird das körpereigene Glückshormon Dopamin ausgeschüttet. So betrachtet, kann uns Neugier sogar körperlich befriedigen. Last but not least sind neugierige Menschen sehr offen im Umgang mit anderen Menschen und haben ein entsprechend reiches Sozialleben. Sie ziehen sich zur Reflexion zwar immer wieder mal zurück, brauchen aber eben auch ganz stark den Austausch.
Ich muss noch einmal auf das Fragen und Hinterfragen zurückkommen. Das mag andere nerven, doch mir eröffnet es zum Teil komplett neue Welten.
Absolut verständlich. Durch Fragen stellen wir einen Bezug zu unserem Leben her. Nicht nur deshalb sollten Fragen im Zentrum des Lernens stehen. Meiner Meinung nach ist es fatal, dass das an Schulen nicht der Fall ist. Vielmehr gilt: Je höher der Schulgrad, desto weniger Fragen werden gestellt, weil dafür keine Zeit ist und ja Wissen vermittelt werden muss. Als Ergebnis haben wir Absolventen, die nur wenig kreativ und innovativ sind. Im Berufsleben muss das dann durch diverse Workshops, Seminare oder Techniken wieder umständlich erlernt werden. Kinder und Jugendliche verlernen im Laufe der Ausbildung, Fragen zu stellen, neugierig und kreativ zu sein. Das ist bedenklich.
Wie wichtig sind denn die Antworten?
Na ja, in den Fragen stecken halt auch die Antworten.
Also nicht so wichtig.
Doch schon. Aber alles beginnt mit einer guten Frage. Daher arbeiten wir mit der Neugier-Methode Question-Storming. Das ist wie Brainstorming – nur mit Fragen. Dabei werden zunächst ganz, ganz viele Fragen zu einem Problem oder einer Herausforderung gesammelt – mindestens 30 Stück. Wichtig ist, dass die Fragen nicht kommentiert werden, sondern im Raum stehen bleiben dürfen. Es zeigt sich immer wieder, dass man durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Fragen schlussendlich zum Kern des Problems vordringt.
Klingt sehr spannend. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass das manchen zu langsam geht. In unserer schnelllebigen Zeit brauchen wir ja auch entsprechend schnelle Lösungen.
Ja, denn unser Gehirn mag keine Unklarheit. Die Menschen fühlen sich wohler, wenn sie ein Problem mit ja oder nein abhaken und möglichst schnell zur Tagesordnung bzw. in den Energiesparmodus zurückkehren können. Das war früher wichtig, als wir entscheiden mussten, ob hinterm Busch ein Löwe sitzt. Heute brauchen wir das nicht mehr und suchen viel zu schnell die Abzweigung zur Lösung. Klar sollten wir nicht ewig über etwas nachdenken, aber mal ein, zwei Nächte darüber schlafen, macht durchaus Sinn. Wer sich näher mit der Thematik befassen möchte, dem kann ich Daniel Kahnemans Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ empfehlen.
Wir sollten uns also Zeit nehmen, über Dinge nachzudenken, sie neu zu entdecken bzw. neues Wissen zu generieren. Oder um bei Deinem Spezialgebiet zu bleiben: Wir sollten uns Zeit nehmen, neugierig zu sein. Stellt sich die Frage: Haben wir im Alltag überhaupt Platz für Neugier?
Wir haben Platz, wenn wir ihn uns nehmen. Wichtig ist außerdem, dass wir ihn anderen vermitteln – gerade im Hinblick auf die Führung von Mitarbeitern. Gute Führungskultur ist kommunikativ. Da werden viele Fragen gestellt, schon weil sich ein Leader darüber im Klaren ist, dass er oder sie nicht alles wissen kann – und auch nicht wissen muss. Dafür hat man ja ein Team mit unterschiedlichen Menschen, die wiederum über unterschiedliches Wissen verfügen. Eine gute Führungsperson kann sagen, dass er oder sie keine Ahnung hat, dass man gemeinsam über dieses oder jenes nachdenken sollte. Fragen stellen ist ein demokratischer Prozess, ein Dialog. Fragen zeigen auch Wertschätzung: Ich interessiere mich für Dich und Deine Meinung. Das ist wichtig.
Wenn ich also Fragen stelle und neugierig bin, kann ich mir in dieser sich schnell verändernden Welt Zeit verschaffen und mich gewissermaßen neu orientieren.
Definitiv. Natürlich müssen wir manchmal schnell reagieren. Zu schnell ist allerdings auch nicht gut, weil wir dann oft hektisch und unproduktiv agieren. Man kann das mit Wundversorgung vergleichen: Eine Blutung muss so rasch wie möglich gestillt werden. Dann aber gilt es, die Röntgenaufnahmen und weitere Untersuchungen abzuwarten, bevor nächste Schritte eingeleitet werden. Also ja, nehmen wir der schnelllebigen Welt durch unsere Neugier den Wind aus den Segeln, denn wir haben oft mehr Zeit als wir denken.
Vielen Dank für das Gespräch, Andreas!
(c) Zukunftsinstitut Workshop
Zur Person: Andreas Steinle
Andreas Steinle ist – zusammen mit Christiane Friedemann – CEO und Gründer der Zukunftsinstitut Workshop GmbH in Frankfurt, eine Schwestergesellschaft des Zukunftsinstituts, dem er viele Jahre als Geschäftsführer vorstand. Er ist seit über 20 Jahren in der Trend- und Zukunftsforschung tätig – von Hamburg bis nach New York –, berät Unternehmen in der Fragestellung, wie sie ihre Zukunftsfitness verbessern können, ist gefragter Redner und Autor mehrerer Bücher. Neben der Erforschung der Neugier gilt sein besonderes Interesse dem gesellschaftlichen Wandel und wie sich dieser in neuen Konsum- und Kommunikationstrends ausdrückt.
Website: www.zukunftsinstitut-workshop.de