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Zukunftswissen

Zum Jahresabschluss habe ich mir in einem Feedbackgespräch mit unserer Geschäftsführung gewünscht, dass ich im kommenden Jahr wieder mehr neues lernen möchte. Meinen Horizont erweitern und neue Perspektiven gewinnen möchte. Wer die Zukunft gestalten will, der muss offen für Neues sein – Neues aufsaugen, aufnehmen, inhalieren, die Dinge neu formen. So in etwa stellte ich mir das für 2023 zumindest vor. Irgendwie lebendig, aktiv und vorwärts.
Doch während der Feiertage bin ich in den inneren Diskurs gegangen. Das Jahr 2022 war für mich – um es in einem Wort zu sagen – voll. Voll im Sinne des sprichwörtlichen Fasses, dass nicht nur droht überzulaufen, sondern dies auch tat. Und so war mir plötzlich klar, dass mein Wunsch für 2023 nicht darin besteht, dieses bereits volle Fass weiter aufzufüllen. Vielmehr wünsche ich mir für das anstehende Jahr ein halb volles Fass – wobei die Betonung auf voll liegt, denn halb leer ist keine Option für mich.

Braucht es wirklich mehr?

Ich bin davon überzeugt, dass es viel positiver Energie von uns allen bedarf, eine gute und glückliche Zukunft zu gestalten. Doch wie soll das gehen, wenn wir ständig kurz vor dem Überlaufen stehen? Brauchen wir tatsächlich immer noch mehr Neues? Müssen wir uns wirklich kontinuierlich neues Wissen aneignen? Ist es sinnvoll bzw. erstrebenswert, im Hamsterrad von mehr, mehr und nochmals mehr zu bleiben? 
Meiner Meinung nach nein. Nicht höher, weiter und schneller sollte die Prämisse sein, sondern partizipativer, sinnhafter und empathischer. Achtsamer im Umgang mit unseren Ressourcen – unseren eigenen, die unserer Mitmenschen und die der Erde. Wir stehen vor großen Herausforderungen. Doch müssen wir Neues lernen, um diese Herausforderungen zu meistern und zu bestehen.

Verlernen, um zu lernen

Ich habe meine Zweifel und frage mich, ob wir nicht lieber verlernen sollten? Ein Verlernen von Glaubenssätzen, von Paradigmen, von „das haben wir schon immer so gemacht“. Können wir durch aktives Verlernen Raum für neue Perspektiven schaffen, Bilder einer Zukunft, die frei von den Grenzen der eigenen erlernten Kultur ist? Frei von den Grenzen im Denken der Möglichkeiten?
Je mehr ich darüber nachgedacht habe (und nach wie vor nachdenke), umso einfacher erscheint es mir, Neues zu lernen, als Bestehendes und Gewohntes zu verlernen. Und wer weiß: Vielleicht bietet gerade das Verlernen bzw. der Prozess des Verlernens ungeahnte Möglichkeiten für Veränderungen, Wandel und neue Erfahrungen?
Für mich ist Lernen Gegenwart. Verlernen ist Zukunft. Und lernen zu verlernen, um dabei zu lernen, ist Zukunftsgestaltung.

Über die Autorin…

Janina Clever leitet als Industrie Designerin bei Generationdesign in Wuppertal komplexe Design- und Strategieprojekte. Die studierte Arbeits- und Organisationspsychologin setzt auf nachhaltigen Mehrwert und Nutzen, der durch agile und interdisziplinäre Austauschformate und Arbeitsmethoden entsteht. Dabei sieht sie in der Fusion von digitalen und realen Formaten für die Zukunft noch unentdeckte Potenziale. Janina Clever ist außerdem Teil des Zukunftsrates von Zukunft Neu Denken.

 

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Disconnect,Gastkommentar

Müssen wir lernen zu verlernen?

Lebenslanges Lernen ist in aller Munde. Janina Clever aber fragt sich: Müssen wir tatsächlich immer mehr wissen? Oder sollten wir nicht lieber lernen zu verlernen?

Land schafft Leben ist österreichischen Lebensmitteln auf der Spur. Werdet ihr künftig also auch in Fleisch-Laboren und Gemüse-Hochhäusern unterwegs sein oder 3D-Drucker unter die Lupe nehmen, die Lebensmittel aufbereiten? 
Wenn es das ist, was wir in Zukunft essen, werden wir dem Essen dort auf der Spur sein. Ob es tatsächlich soweit kommt, dass Lebensmittel nur mehr im Labor gefertigt werden, wird sich natürlich zeigen. Aktuell betreiben wir in Österreich immer noch vor dem Hintergrund Landwirtschaft, dass auch Lebens- und Kulturraum gestaltet wird, während wir uns die Natur für die Herstellung von Lebensmitteln zunutze machen.

Die Frage ist halt, ob es sich bei der großen Nachfrage ausgeht, dass Lebensmittel in Zukunft ohne industrielle Fertigung produziert werden können. Ich meine: In den wohl meisten Fällen kommt das, was wir essen, halt nicht von glücklichen Viechern, die man in der Werbung sieht, sondern von Großbauern mit riesigen Stallungen und Ackerflächen.
Sagen wir so: Es ist immer wichtig zu hinterfragen, woher die Informationen kommen und ob sie auch die heimische Landwirtschaft betreffen. Immerhin werden Lebensmittel nicht überall gleich produziert, das macht es ja so spannend. Zudem ist die Welt nie nur schwarz und weiß. Die eine Seite nimmt ausschließlich Negativberichte und Skandale wahr. Das führt dann dazu, dass man sich all dem komplett entziehen möchte, etwa indem man gar kein Fleisch mehr konsumiert. Auf der anderen Seite gibt es jene, die alles schönreden. Und wenn wir uns ausschließlich an der Werbung orientieren, besteht – anscheinend – wirklich kein Handlungsbedarf. Doch Fakt ist: Die Realität liegt zwischen diesen Extrempositionen. Und wenn wir uns für die Zukunft ausrichten wollen, müssen wir die Ist-Situation auch korrekt abbilden. Nur so können wir Eigenverantwortung übernehmen und etwas verändern. Und das können wir – meiner Meinung nach können wir sogar mit allem, was wir tun, Zukunft gestalten.

Dafür allerdings müssen wir wissen, was wir essen…
Genau. Und deshalb bemühen wir uns, dieses Wissen zu vermitteln. Leider gibt es nämlich ganz viel Halbwissen, aus dem viele ihre Meinung bilden. Es werden zum Teil Kampagnen gefahren, um den Menschen zu sagen, was falsch und was richtig ist. Aber wer entscheidet das? Land schafft Leben gibt es nun seit über acht Jahren und mittlerweile weiß ich, dass nichts ganz eindeutig in richtig oder falsch eingeteilt werden kann. Es ist wichtig, dass Menschen sich wieder eine eigene Meinung auf Basis von transparenten Informationen bilden. Wir wollen niemandem eine Meinung überstülpen. Es geht ausschließlich darum, dass jeder die Sicht auf die reale Ist-Situation hat und in der Folge Eigenverantwortung übernehmen und bewusste Konsumentscheidungen treffen kann. Letztlich geht es um den bewussten Griff ins Regal.

Und dabei sollten wir möglichst zu Bioprodukten greifen?
Gute Frage. Noch vor einigen Jahren hätte ich ganz klar mit Ja geantwortet. Tatsache ist: Ja, eine kleinstrukturierte ökologische Landwirtschaft ist unter anderem gut für die Biodiversität. Eine intensivere Landwirtschaft kann im Vergleich ihre Flächen und Ressourcen oft effizienter nutzen. Das ist genauso gut für Umwelt und Klima, weil sie objektiv betrachtet weniger Fläche für die produzierten Lebensmittel verbraucht. Auch der Effizienzgedanke sollte also in der Landwirtschaft Platz finden dürfen. Und nicht immer ist die biologische Produktion gegenüber der konventionellen klar im Vorteil.
Bis vor ein paar Jahren hätte ich gesagt: Das kann nicht sein. Einfach weil ich es nicht wahrhaben wollte. Und warum ist das so? Weil wir so mit einseitigem Halbwissen gefüttert wurden und werden, dass wir nicht mehr wissen, was die Realität ist. Bei Land schafft Leben geht es um den ökoeffizienten Gedanken – und zwar in jeder Hinsicht. Nicht um richtig oder falsch, nicht um guter Bauer versus böser Bauer, gute Freilandhaltung versus schlechte Massentierhaltung. Wobei es Letztere in Österreich gar nicht gibt.

 

Welche Werte legst du in deinen Einkaufswagen? (© Land schafft Leben)

Wirklich? Wir haben keine Ställe mit tausenden von Viechern?
Hier müssen wir uns die Frage stellen: Was ist Massentierhaltung? Die größten Schweineställe in Österreich haben nicht ganz 2.000 Schweine, in Deutschland sind es 20.000, in China fünf Millionen. Die für mich größte Erkenntnis war allerdings, als wir uns mit der Zuckerrübe auseinandergesetzt haben und die Biozuckerernte filmen wollten. In mehreren Anbauanläufen konnte keine einzige Ernte eingefahren werden, weil die Bauern gewisser Schädlinge einfach nicht Herr werden konnten. Ein konventioneller Betrieb sät und hat die Möglichkeit, bei Schädlingsdruck ein Pflanzenschutzmittel anzuwenden. Das ist ein wichtiger Beitrag, um Ernteausfälle zu verhindern. Ein Bio-Betrieb kann Unkräuter mechanisch entfernen oder ein für den Bio-Bereich zugelassenes Pflanzenschutzmittel ausbringen. Hier sind oft mehrere Überfahrten für eine entsprechende Wirksamkeit notwendig. Wenn am Ende null Kalorien produziert wurden, weil keine der Methoden funktioniert hat, ist das nicht nur wirtschaftlich betrachtet, sondern auch aus ökologischer Sicht ein Wahnsinn. Bei Kartoffeln haben wir im Biobereich vergleichsweise oft bis zu 50 Prozent weniger Ertrag. Dennoch nimmt die Gesellschaft die biologische Landwirtschaft gern als positiv und die konventionelle Landwirtschaft als eher negativ wahr.

Warum ist es auch im Hinblick auf die Welt von morgen so wichtig, dass wir mehr darüber wissen, was bei uns auf den Teller kommt?
Zum einen natürlich wegen der eigenen Gesundheit. Im Westen haben wir ja das Phänomen, dass wir übergewichtig und zugleich unterernährt sind. Wir kaufen Fertigprodukte und wundern uns, dass wir nach dem Essen immer noch Hunger haben und sogar zunehmen. Wir müssen uns aber nicht nur um uns und den eigenen Körper kümmern, sondern auch um unseren Lebensraum. Als Konsument ist es wichtig zu wissen: Wofür stehe ich? Was sind meine Werte? Und welche lege ich mir in den Einkaufswagen? Muss ich ausschließlich auf meinen Vorteil schauen oder betrachte ich es ganzheitlich? Ich kann nicht von allem mehr konsumieren, eine höhere Qualität bzw. alles in Bioqualität verlangen und gleichzeitig einen niedrigen Preis fordern. Klar ist der Preis ein Wert und für manche ist er eben entscheidend. Für andere hingegen stehen Tierwohl, Erhalt des Lebensraums oder Menschenrechte im Vordergrund. All das kann ich mir in den Korb legen – vorausgesetzt ich verfüge über das nötige Wissen. Ja, wir nutzen die Natur fürs Überleben, das war immer schon so. Doch wir müssen es in Kreisläufen denken entsprechend bewusste Konsumentscheidungen treffen. Das ist für mich Zukunft neu denken.
 
Zukunft neu denken bedeutet für Dich also, dass der Konsument sich wieder als Teil der Kreislaufwirtschaft sieht?
Ja. Und das fängt schon damit an, dass man sich fragt: Was und wie viel brauche ich wirklich? Lebensmittelverschwendung ist ein Riesenthema. Im Schnitt landen in Österreichs Haushalten pro Jahr fast 58 Kilo genießbare Lebensmittel und Speisereste im Müll. Wir sind nicht nur eine Verbraucher-, sondern mehr noch eine Wegwerfgesellschaft. Das ist auch ein großes Bildungsthema. Es freut uns sehr, dass mehr und mehr Schulen unser Arbeitsmaterial zu Lebensmittelwissen, Ernährungsbildung und Konsumkompetenz in Anspruch nehmen. Denn die nächste Generation ist sehr daran interessiert, Eigenverantwortung zu übernehmen. Kinder und Jugendliche haben Spaß daran, sich das Essen dienlich zu machen, insofern als sie sich damit auseinandersetzen, was dem Körper dient und wie man sich den eigenen Lebensraum schmackhaft und nachhaltig nutzbar machen kann. Im Prinzip sind wir die Avatare des Lebens: Wir können unseren Körper, unseren Lebensraum und damit auch unsere Zukunft modellieren – vorausgesetzt wir verfügen über Wissen, übernehmen (wieder) Eigenverantwortung und bewahren uns unsere Neugier.

Vielen Dank für das interessante Gespräch, Maria. Wir freuen uns schon auf den Talk am 17. November in Dornbirn.

 

Maria Fanninger (© Land schafft Leben)

Zur Person: Mag. Maria Fanninger

…ist Mitbegründerin und Vorständin von Land schafft Leben, die sich auf die Spuren heimischer Lebensmittel machen. Maria befasst sich vor allem mit den Themen Bildung und Ernährung, wobei es der studierten Wirtschaftspädagogin besonders darum geht, den Menschen die Eigenverantwortung in vielen Bereichen ihres Lebens bewusst zu machen. Denn für Maria gilt: Nur wer Verantwortung übernimmt, kann auch (Zukunft) gestalten, ganz besonders, wenn es um Gesundheit, Ernährung und Konsum geht.
www.landschafftleben.at

 

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Im Gespräch mit...,Vertrauen

Lebensmittel: Nicht nur zum Essen sind sie da…

Maria Fanninger, Vorständin von Land schafft Leben, weiß, was auf Österreichs Tellern landet. Ein Gespräch über (Halb-)Wissen und Eigenverantwortung, warum wir Werte und Haltungen in den Einkaufswagen legen und was bewusste Konsumentscheidungen mit Zukunft zu tun haben.

Du bist schon seit drei Jahrzehnten in der Zukunftsarbeit tätig. Was hat sich seither verändert?
Die Zukunft ist seit jeher ein Thema – für den einzelnen, die Gesellschaft als Ganzes, für Industrie, Wirtschaft und Politik. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Allerdings ist das Thema in Gestalt der Zukunftsforschung mittlerweile auch in anderen Bereich angekommen – von Bildungseinrichtungen bis hin zu Ministerien und Regierungen. Natürlich ist der Weg nicht beendet, er geht weiter. Und das ist ja eigentlich das Spannende: Zukunft kann nie gebannt werden, sie bleibt störrisch und immer überraschend. Sie wird immer eine kreative Annäherung erfordern. Letzteres ist im Grunde die herausfordernde Konstante, wenn es um Zukunft geht. Die Bedingungen ringsherum verändern sich laufend. Und aktuell haben wir es noch dazu mit multiplen Krisen zu tun: Klima, Corona, Krieg – um nur einige zu nennen. Das erfordert ein Nachdenken im Voraus: Wie gehen wir künftig mit dem Selbstverständnis um, das wir in Europa über all die Jahre im Hinblick auf Sicherheiten entwickelt haben? Gibt es diese Sicherheiten überhaupt noch?

Hat es sie überhaupt jemals gegeben? Obwohl wahrscheinlich nicht absehbar war, dass es derart viele, wie Du sagst, multiple Krisen in so kurzer Zeit gibt.
Nein! Wobei ich nie behauptet habe, die Zukunft voraussagen zu wollen, geschweige denn zu können. Aber man muss sich schon darüber im Klaren sein: Krisen gehören zur gesellschaftlichen Routine – Krisen, wie das Waldsterben, Tschernobyl, 9/11, die Weltwirtschaftskrise 2008, Corona und jetzt eben der Ukraine-Krieg begleiten uns beständig. Wenngleich natürlich niemand gehofft oder erwartet hat, nach 77 Jahren Frieden noch einmal eine derartige Krise erleben zu müssen. Das haben wir wahrscheinlich ein Stück weit auch verdrängt. Die heftig umstrittene Ost-Politik von Willy Brandt war der Versuch, eine Nachkriegsordnung zu entwerfen, die dauerhaft Frieden ermöglicht. Dieser Versuch ist gescheitert. Fakt ist auch: Eine derart einseitige Energieabhängigkeit von Russland zu schaffen, war ein großer politischer Fehler, gerade im Hinblick auf die notwendige Energiewende.

Ein Fehler, aus dem wir nun lernen dürfen bzw. mit Blick auf die Klimathematik eigentlich müssen…
Stimmt. Krise heißt ja, etwas zum Besseren zu wenden. Und obwohl es nicht widerspruchsfrei ist, so eröffnet sich derzeit immerhin ein Fenster der Möglichkeiten, sodass etwa die Energiewende breiter diskutiert und die eine Beschleunigung erfahren wird, eine mit Sackgassen und Umwegen. Gradlinigkeit ist keine Sache der Zukunft.

Apropos Wende: Welches war und/oder ist Deiner Meinung nach im Sinne der Zukunft die wichtigste Transformation?
Ich denke gerne in historischen Analogiebildern. Schaut man sich etwa die Entwicklung der Industriegesellschaft an, so ist der Verbrauch der Ressourcen in den letzten 200 Jahren exponentiell angestiegen. Und das hat mit den langen Wellen der gesellschaftlichen Entwicklung, die von Basistechnologien getrieben wird, zu tun: von der Dampfmaschine über die Elektrizität bis heute zu Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz. Allerdings wird dabei meiner Meinung nach viel zu wenig darüber diskutiert, dass die Basistechnologien auch jeweils eine neue Infrastruktur benötigen: Autos brauchen Straßen, Energie braucht Leitungen und Computer brauchen Netzwerke. Das passiert aktuell beim Megatrend der Digitalisierung wieder. Was sich aktuell auch beim Megatrend der Digitalisierung mit der Herausbildung von Plattformen zeigt. Die Digitalisierung ist dabei lediglich eine Technologie, sie ersetzt und ist keine Ethik.
Interessanter und hinsichtlich der Zukunft sogar wichtiger sind die Kontexte dahinter: die kulturelle Aneignung, die Entfaltung neuer Produktionsweisen, die Chance, mit neuen Möglichkeiten, aktuelle Probleme anzugehen, wie etwa eine algorithmengesteuerte, ressourceneffiziente Kreislaufwirtschaft. Und es geht auch immer um alte Fragen: Was hält uns zusammen und wie wollen wir leben?

Es braucht also Wissen und Austausch.
Ja, wobei man hier zwei Dinge bedenken sollte: Etliche Studien zeigen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung nicht zukunftsoffen ist, sondern der Zukunft eher ängstlich und kritisch gegenübersteht. Das muss man ernst nehmen. Man darf die Menschen nicht vor vollendete Tatsachen stellen, sondern muss sie an Veränderungen beteiligen. Auf einer abstrakten Ebene ist das schwierig, daher brauchen wir einen breiten Diskurs, Auseinandersetzung, Kommunikation, wohin wir wollen und wie wir dorthin kommen. Außerdem müssen den Bürgern Erprobungsräume für Zukünftiges eröffnet werden. Erfolge und Misserfolge müssen erlebbar sein. Spannend ist hier etwa der neue Ansatz einer missionsorientierten Innovationspolitik in Deutschland und Europa: Die Ziele der Innovationen sollen sich an den 17 UN-Zielen für eine nachhaltige Entwicklung orientieren und im Rahmen partizipativer Prozesse unter Einbindung der Zivilgesellschaft formuliert werden. Bis dato ist das noch kaum in der Zivilgesellschaft angekommen, doch der Ansatz verdient mehr Aufmerksamkeit.

Und der zweite Punkt, den wir bedenken sollten?
Der betrifft das Wissen. Noch nie standen den Menschen so viele Informationszugänge zur Verfügung. Wir werden regelrecht davon überflutet. Das war im Verlauf der Industrialisierung nicht der Fall. Außerdem haben wir mit den Fortschritten in Wissenschaft und Technik jetzt Werkzeuge in der Hand, die neu und mächtig sind: von der Atomkraft bis zu KI und Life Science. Nicht zuletzt auch aus diesem Grund wurde Anfang des Jahrtausends der Begriff des Anthropozäns geprägt. Demnach erleben wir aktuell eine Epoche, in der der Mensch zum wichtigsten Faktor auf den blauen Planeten geworden ist. Er bestimmt nicht nur den CO2-Eintrag in die Atmosphäre, er ist heute in der Lage in die Grundbausteine des Lebens, den Atomen, Genen, Bits und Bytes gestaltend einzugreifen.

Die Frage ist: Wird es das Zeitalter des zerstörerischen Menschen und der Krisen?
Das kommt darauf an. Die Klimaproblematik – sicher eine der größten Krisen unserer Zeit – ist etwa auf das Engste mit unserer Lebensweise und unserem Wohlstandsmodell verbunden. Und ja, damit nachfolgende Generationen noch eine lebenswerte Welt vorfinden, braucht es ein Umdenken und einen weitreichenden Wandel. Ob wir uns tatsächlich, wie viele sagen, in einer Zeit des Epochenwechsels befinden, ist schwer zu sagen, wenn man selbst Zeitgenosse ist. Es spricht aber einiges dafür, schließlich erleben wir vielfältige Veränderungen, auch Kipppunkte, sei es politisch, technologisch, ökonomisch oder eben ökologisch. Wir müssen grundsätzliche Dinge des Zusammenlebens, des Wirtschaftens und Arbeitens neu denken.

Allerdings kann Wandel halt auch nicht angeordnet werden. Der Einzelne kann durch die eigene Veränderung andere inspirieren und somit zum gesellschaftlichen, kulturellen Wandel beitragen.
Sofern der Einzelne das tut. Schlussendlich kann die bevorstehende und politisch gewollte Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft nur gelingen, wenn Akteure der Zivilgesellschaft daran beteiligt werden – mit all ihren unterschiedlichen Sichtweisen. Robert Jungk, den ich selbst noch kennenlernen durfte, war in der Hinsicht ein großer Vordenker. Er hat sich gegen das Expertentum ausgesprochen und für Beteiligungen wie in Zukunftswerkstätten stark gemacht. Uns muss klar sein, dass wir in der Gesellschaft Rechte aber auch Pflichten als Bürger haben. Das ist ein Grundsatz der Demokratie und die ist nun mal kein Geschenk. Das müssen wir ebenfalls begreifen. Wenn wir Demokratie zu schätzen wissen, werden wir sie mit klarer Haltung gegen alle Krisen verteidigen und an die jeweiligen Rahmenbedingungen anpassen müssen.

Womit wir bei D2030 sind: Eine Initiative, die Du zusammen mit anderen Visionären 2018 ins Leben gerufen hast mit dem Ziel, eine Landkarte von Zukunftsbildern für Deutschland zu erstellen.
Ja, wir wollten in einem offenen Szenarioprozess „Deutschland neu denken“. Wir wollten zeigen: Es gibt Alternativen und Perspektiven. Und wir wollten damit Orientierung bieten. In drei Beteiligungsrunden haben wir acht Szenarien erarbeitet, die zusammen eine Zukunftslandkarte ergeben. Die sogenannten Neue Horizonte-Szenarien wurden dabei als wünschenswert bewertet. Die Szenarien beschreiben Pfade in die Zukunft. Man könnte sie auch als Trichter betrachten, der einen prinzipiell vorstellbaren Zukunftsraum aufspannt. Mit Corona haben wir sie auf ihre Robustheit überprüft und sie haben standgehalten. Wir sind aber derzeit dabei, die Neue Horizonte-Szenarien nach 2018 insgesamt neu zu entwerfen. Es ist viel passiert, nicht zuletzt der Krieg in der Ukraine. Weiters wollen wir als Verein, der Zukunft eine Stimme geben, etwa mit unseren monatlichen Futures Lounges via Zoom oder durch praxisbezogene Projekte und Initiativen. Wir sind übrigens offen für Mitarbeit.

Also wir sind auf jeden Fall dabei. Danke für das inspirierende Gespräch, Klaus!

 

Zur Person: Klaus Burmeister

… ist, wie er selbst sagt, Zukunftsdiagnostiker – und nicht Zukunftsforscher. So oder so ist er seit Mitte der 1980er-Jahre im Bereich der Zukunftsarbeit tätig, baute 1990 das Sekretariat für Zukunftsforschung in Gelsenkirchen auf, war 1997 Mitgründer von Z_punkt und rief 2014 das foresightlab in Berlin ins Leben. Seit 2016 ist er außerdem Geschäftsführer der gemeinnützigen Initiative D2030.
www.foresightlab.de
www.d2030.de

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Im Gespräch mit...,Transformation

Krisen gehören zur gesellschaftlichen Entwicklung

Klaus Burmeister ist davon überzeugt, dass Krisen immer auch Möglichkeiten eröffnen und die Welt dadurch besser werden kann. Außerdem sprechen wir über fehlende Infrastrukturen, Zukunftsängste und zu viel Wissen in Zeiten des Wandels und warum Deutschland nun eine Landkarte von Zukunftsbildern hat.

Neugier ist der Hunger nach Wissen in Kombination mit der Bereitschaft, sich überraschen und auf Neues einzulassen. Gleichzeitig verunsichert das Unbekannte viele Menschen. Sind es also die „neugierigen Draufgänger“, die mit der ungewissen Zukunft kein Problem haben?
Das glaube ich nicht. Schon alleine, weil Verunsicherung gut ist, da sie ein Zeichen für Wachsamkeit ist. Wobei es natürlich auf das Maß ankommt und ob man die Verunsicherung in konstruktive Bahnen lenken kann, sodass sie zu einer Form der Zukunftsachtsamkeit wird. Jim Collins (US-amerikanischer Managementexperte, Anm.) hat sich beispielsweise Unternehmen und deren CEOs angeschaut, die gut durch Krisen gekommen sind. Er wollte herausfinden, ob es ein gemeinsames Charakteristikum gibt. Und es hat sich gezeigt, dass es weniger die reinen Visionäre waren, sondern vielmehr jene, die eine produktive Paranoia an den Tag gelegt haben. Damit ist gemeint, dass erfolgreiche CEOs immer Angst haben, etwas zu verpassen, und deshalb ihre Warnantennen pausenlos ganz weit ausgefahren haben. Sie lassen sich durch Warnungen und potenzielle Gefahren allerdings nicht lähmen, sondern sind im Gegenteil produktiv, stellen Hypothesen auf, die dann verifiziert oder falsifiziert werden.

Wir sollten uns also auf die Suche nach Lösungen machen. Kann uns dabei die sogenannte epistemische Neugier helfen? Schließlich ist sie laut Psychologe Daniel Berlyne wissensbezogen.
Die epistemische Neugier ist eine Art Forscherdrang, der uns dazu bringt, aus Unwissen Wissen zu machen. Insofern unterscheidet sie sich massiv von dem, was man im Allgemeinen unter Neugier versteht – also beispielsweise den neuesten Klatsch und Tratsch erfahren zu wollen. Bei der epistemischen Neugier werden Fragen gestellt und ständig hinterfragt, bis man schlussendlich zum Kern kommt.

Aber ist es nicht auch so, dass wir oft das Interesse verlieren, wenn wir etwas verstanden haben, wenn also die Neugier gestillt ist? Und könnte man folglich – und zugegeben etwas überspitzt – sagen: Wüssten wir, was die Zukunft bringt, hätten wir gar kein Interesse am Morgen?
So einfach ist es nicht (lacht). Unsere Neugier wird dann entfacht, wenn etwas einerseits neu ist und wir andererseits einen Bezug dazu herstellen können. Stehen wir zum Beispiel in einem Museum für moderne Kunst vor einem Bild mit einem Farbklecks, ist das zwar neu, aber es erschließt sich uns meist nicht. Wird mir allerdings erklärt, warum der Künstler diesen Farbklecks gemacht hat, was er damit assoziiert, kann es auch für mich plötzlich interessant werden. Mit der Zukunft ist das nicht anders.

Angenommen ich habe einen Bezug zur Zukunft: Inwiefern kann mir der eigene Wissensdrang helfen, mich im – trotz allem – ungewissen Morgen zurechtzufinden?
Neugierige, wissbegierige Menschen kommen sehr viel leichter durch unsichere Zeiten. Schon alleine, weil sie schneller ins Tun kommen, sich – wenn es sein muss – verändern, neu aufstellen. Sie akzeptieren neue Situationen, auch wenn sie noch so mies sein sollten. In der Resilienzforschung nennt man das radikale Akzeptanz. In der Neugierforschung sprechen wir von Anspannungstoleranz: Neugierige Menschen halten Unsicherheiten besser aus und haben mehr Zuversicht, Probleme zu lösen. Außerdem legen sie eine Entdeckerfreude an den Tag – sie wollen wissen, wie es hinter dem Horizont ausschaut. Der Antrieb durch Wissenslücken spielt ebenfalls eine sehr wichtige Rolle. Dabei kommt ein biochemischer Prozess im Gehirn zum Tragen. Wenn wir zum Beispiel ein Rätsel lösen, wird das körpereigene Glückshormon Dopamin ausgeschüttet. So betrachtet, kann uns Neugier sogar körperlich befriedigen. Last but not least sind neugierige Menschen sehr offen im Umgang mit anderen Menschen und haben ein entsprechend reiches Sozialleben. Sie ziehen sich zur Reflexion zwar immer wieder mal zurück, brauchen aber eben auch ganz stark den Austausch.

 

Ich muss noch einmal auf das Fragen und Hinterfragen zurückkommen. Das mag andere nerven, doch mir eröffnet es zum Teil komplett neue Welten.
Absolut verständlich. Durch Fragen stellen wir einen Bezug zu unserem Leben her. Nicht nur deshalb sollten Fragen im Zentrum des Lernens stehen. Meiner Meinung nach ist es fatal, dass das an Schulen nicht der Fall ist. Vielmehr gilt: Je höher der Schulgrad, desto weniger Fragen werden gestellt, weil dafür keine Zeit ist und ja Wissen vermittelt werden muss. Als Ergebnis haben wir Absolventen, die nur wenig kreativ und innovativ sind. Im Berufsleben muss das dann durch diverse Workshops, Seminare oder Techniken wieder umständlich erlernt werden. Kinder und Jugendliche verlernen im Laufe der Ausbildung, Fragen zu stellen, neugierig und kreativ zu sein. Das ist bedenklich.

Wie wichtig sind denn die Antworten?
Na ja, in den Fragen stecken halt auch die Antworten.

Also nicht so wichtig.
Doch schon. Aber alles beginnt mit einer guten Frage. Daher arbeiten wir mit der Neugier-Methode Question-Storming. Das ist wie Brainstorming – nur mit Fragen. Dabei werden zunächst ganz, ganz viele Fragen zu einem Problem oder einer Herausforderung gesammelt – mindestens 30 Stück. Wichtig ist, dass die Fragen nicht kommentiert werden, sondern im Raum stehen bleiben dürfen. Es zeigt sich immer wieder, dass man durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Fragen schlussendlich zum Kern des Problems vordringt.

Klingt sehr spannend. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass das manchen zu langsam geht. In unserer schnelllebigen Zeit brauchen wir ja auch entsprechend schnelle Lösungen.
Ja, denn unser Gehirn mag keine Unklarheit. Die Menschen fühlen sich wohler, wenn sie ein Problem mit ja oder nein abhaken und möglichst schnell zur Tagesordnung bzw. in den Energiesparmodus zurückkehren können. Das war früher wichtig, als wir entscheiden mussten, ob hinterm Busch ein Löwe sitzt. Heute brauchen wir das nicht mehr und suchen viel zu schnell die Abzweigung zur Lösung. Klar sollten wir nicht ewig über etwas nachdenken, aber mal ein, zwei Nächte darüber schlafen, macht durchaus Sinn. Wer sich näher mit der Thematik befassen möchte, dem kann ich Daniel Kahnemans Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ empfehlen.

Wir sollten uns also Zeit nehmen, über Dinge nachzudenken, sie neu zu entdecken bzw. neues Wissen zu generieren. Oder um bei Deinem Spezialgebiet zu bleiben: Wir sollten uns Zeit nehmen, neugierig zu sein. Stellt sich die Frage: Haben wir im Alltag überhaupt Platz für Neugier?
Wir haben Platz, wenn wir ihn uns nehmen. Wichtig ist außerdem, dass wir ihn anderen vermitteln – gerade im Hinblick auf die Führung von Mitarbeitern. Gute Führungskultur ist kommunikativ. Da werden viele Fragen gestellt, schon weil sich ein Leader darüber im Klaren ist, dass er oder sie nicht alles wissen kann – und auch nicht wissen muss. Dafür hat man ja ein Team mit unterschiedlichen Menschen, die wiederum über unterschiedliches Wissen verfügen. Eine gute Führungsperson kann sagen, dass er oder sie keine Ahnung hat, dass man gemeinsam über dieses oder jenes nachdenken sollte. Fragen stellen ist ein demokratischer Prozess, ein Dialog. Fragen zeigen auch Wertschätzung: Ich interessiere mich für Dich und Deine Meinung. Das ist wichtig.

Wenn ich also Fragen stelle und neugierig bin, kann ich mir in dieser sich schnell verändernden Welt Zeit verschaffen und mich gewissermaßen neu orientieren.
Definitiv. Natürlich müssen wir manchmal schnell reagieren. Zu schnell ist allerdings auch nicht gut, weil wir dann oft hektisch und unproduktiv agieren. Man kann das mit Wundversorgung vergleichen: Eine Blutung muss so rasch wie möglich gestillt werden. Dann aber gilt es, die Röntgenaufnahmen und weitere Untersuchungen abzuwarten, bevor nächste Schritte eingeleitet werden. Also ja, nehmen wir der schnelllebigen Welt durch unsere Neugier den Wind aus den Segeln, denn wir haben oft mehr Zeit als wir denken.

Vielen Dank für das Gespräch, Andreas!

 

(c) Zukunftsinstitut Workshop

 

Zur Person: Andreas Steinle

Andreas Steinle ist – zusammen mit Christiane Friedemann – CEO und Gründer der Zukunftsinstitut Workshop GmbH in Frankfurt, eine Schwestergesellschaft des Zukunftsinstituts, dem er viele Jahre als Geschäftsführer vorstand. Er ist seit über 20 Jahren in der Trend- und Zukunftsforschung tätig – von Hamburg bis nach New York –, berät Unternehmen in der Fragestellung, wie sie ihre Zukunftsfitness verbessern können, ist gefragter Redner und Autor mehrerer Bücher. Neben der Erforschung der Neugier gilt sein besonderes Interesse dem gesellschaftlichen Wandel und wie sich dieser in neuen Konsum- und Kommunikationstrends ausdrückt.

Website: www.zukunftsinstitut-workshop.de

 

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Im Gespräch mit...,Orientierung

Neugier: Nehmen wir den Wind aus den Segeln

Die Neugier hat es dem Frankfurter Innovationsberater sowie Trend- und Zukunftsforscher Andreas Steinle besonders angetan. Im Gespräch erzählt er, wie uns produktive Paranoia und Forscherdrang auf dem Weg ins ungewisse Morgen helfen können, was die Zukunft mit einem Farbklecks zu tun hat und warum wir (wieder) Fragen stellen sollten.