Ich habe oft das Gefühl, dass im Bildungsbereich vorwiegend altes Wissen und somit Vergangenheit vermittelt werden. Zum Teil ist das natürlich notwendig, aber die Zeiten verändern sich so schnell, dass doch der Fokus auf der Welt von Morgen liegen sollte. Wie viel Zukunft steckt also deiner Meinung nach in der Hochschule?
Ich bin nun seit fünfeinhalb Jahren an der Hochschule Ravensburg-Weingarten (kurz RWU), war davor im Lebensmitteleinzelhandel und in der Industrie tätig und im Vergleich dazu kann man das Konstrukt der Hochschule wohl als eher träge bezeichnen. Das liegt unter anderem an sehr langen Entscheidungswegen, die eingehalten werden müssen. In vielen Bereichen sind wir an Ministerien und/oder Bundesländer gekoppelt und Teil eines Beamtenapparats. Manch einer wechselt sogar von der Wirtschaft oder Industrie an die Hochschule oder Universität, weil er diese Art der Langsamkeit sucht. Ein derartiges Umfeld bietet Sicherheit, bremst aber gleichzeitig das System.
Ich selbst habe mich ganz bewusst auf den Weg zur Professur gemacht, weil ich junge Menschen in ihrer persönlichen Weiterentwicklung begleiten möchte. Glücklicherweise habe ich die Möglichkeit, meine Lehrpläne im Rahmen der Vorgaben von den Inhalten frei und großzügig zu gestalten. Auch in der Arbeitsweise habe ich freie Hand; für mich ist diese Freiheit unbezahlbar.
Gibt es denn mehr von „deiner Sorte“? Sprich: Lehrende, die Wandel und somit Zukunft gestalten wollen?
Ja und das ist essenziell, denn wir müssen Wandel forcieren, alleine wegen des demografischen Wandels, den wir als Hochschule im ländlichen Raum besonders spüren. Wir stehen im Wettbewerb mit anderen Hochschulen und müssen entsprechend Differenzierungsmerkmale aufweisen. Zum Glück also haben immer mehr meiner Kolleginnen und Kollegen den Anspruch, jungen Menschen etwas für die Zukunft mitzugeben. Dafür müssen wir uns allerdings mit den Themen der Zukunft wie Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Globalisierung usw. eingehend beschäftigen.
Reicht es denn, auf Zukunftsthemen zu setzen, um eine Hochschule der Zukunft zu werden?
Nein. Wir müssen vielmehr die Studiengänge zukunftsfähig gestalten – und zwar sowohl inhaltlich als auch in der Art und Weise wie wir diese Inhalte vermitteln. An der RWU arbeiten wir schon länger an neuen Lernkonzepten, erproben sie im Hochschulalltag und passen sie kontinuierlich an. Interaktion wird beispielsweise immer wichtiger. Freilich kann man mit einer Anfängergruppe von 120 Leuten nicht in einen Dialog treten, wie das in der Kleingruppe möglich ist. Frontalunterricht allerdings, wie er noch vor 20 Jahren gang und gäbe war, gibt es bei mir so gut wie nicht mehr – zum Glück. Außerdem setzen wir sehr stark auf projekt- und praxisbasiertes Lernen mit echten Case Studies, zu denen etwa Mitarbeiter von Firmen zu uns an die Hochschule kommen.
Klingt interessant. Zu meiner Zeit habe ich Case Studies nur auf dem Papier durchgearbeitet.
Bei mir gab’s im Studium eigentlich nur Frontalunterricht. Umso mehr freut es mich, dass die RWU unterschiedliche Kooperationen mit Unternehmen aus Wirtschaft und Industrie hat. Ein Beispiel hierfür ist Dell Technologies: Pro Semester arbeiten bis zu zehn Mitarbeiter mit den Studierenden in Kleingruppen und unterfüttern sozusagen Theorie mit Praxis. Vielfach geht es dabei um Themen, die bei Dell Technologies künftig von Interesse sein werden – etwa die die Frage, welche Aufgaben die Digitalisierung im Pflegedienst künftig leisten wird können und müssen. Immerhin haben wir es bereits heute mit einem Fachkräftemangel zu tun, der ab 2030 so richtig zum Problem wird. Das sind Themen, über die Studierenden nachdenken müssen, denn es braucht dringend adäquate Lösungen. Die Manager von Dell Technologies holen sich von unseren Studierenden über verschiedene Rechercheansätze wertvollen Input, für den im Arbeitsalltag eines Managers schlichtweg die Zeit fehlt. So lassen sie etwa Marktrecherchen durchführen, geben wissenschaftliche Analysen in Auftrag usw. Im Gegenzug profitieren die Studierenden vom enormen Praxiswissen der Dell Coaches. Es ist eine klassische Win-Win Situation für beide Seiten. Und die Ergebnisse lassen sich oft vorzeigen: Auch eine App für digitale Anwendungen wurde im Rahmen dieser Kooperation schon entwickelt.
Mir scheint eine Hochschule sowieso der ideale Ort für Experimentier- und Möglichkeitsräume.
Absolut. Die RWU hat zahlreiche Labore, in denen die Studierenden forschen und praxisnah arbeiten können. Viele Labore sind technischer Natur. Im Bereich Marketing haben wir ein Marketing Insight Excellence Lab, wo das Blickverhalten mittels Eye Tracking erfasst, analysiert und Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Fakultätsübergreifend gibt es beispielsweise unser Formula Student Team. Hier konstruieren und fertigen Studierende Rennwagen und nehmen damit jedes Jahr beim weltweit größten Konstruktionswettbewerb für Studierende teil. Bei all diesen Projekten werden aber nicht nur Theorie und praktische Erfahrungen vereint, die jungen Menschen haben auch Spaß. Und das ist besonders wertvoll. Wenn man die Grenzen nicht so eng zieht, wenn also Freude am Lernen erlaubt bzw. gefördert wird, führt das im Endeffekt zu besseren Ergebnissen.
Fachwissen ist wichtig, um verschiedene Sachverhalte miteinander in Verbindung bringen zu können. Genauso wichtig – wenn künftig nicht vielleicht sogar noch wichtiger –, ist kreatives Denken und vor allem das Wissen und Können, wie man kreative Ideen auf den Weg bringen kann. Nicht zuletzt aus diesem Grund spielt Interdisziplinarität an der RWU eine entscheidende Rolle.
Du meinst, weil Interdisziplinarität das Entstehen von Innovation fördert, die ja oft genau dort, nämlich an der Grenze zwischen Disziplinen entstehen?
Ja. Aber auch weil wir viel Wert auf zwischenmenschliche Werte legen. Und diese sind nicht nur für das Leben an der Hochschule nötig, sondern in der „Welt draußen“ mittlerweile unerlässlich. Einer meiner Kollegen ist Psychologe, wodurch wir die Studierenden etwa hinsichtlich Führungsthemen, Resilienz, Mindset usw. ganz anders unterstützen können. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass unsere internationale Ausrichtung wesentlich dazu beiträgt, dass die Studierenden sich gegenüber anderen Kulturkreisen öffnen. Auch das ist notwendig, denn die Welt wächst kontinuierlich zusammen.
Apropos Ausland: Ich habe gelesen, dass ihr beim MBA-Studiengang International Business Management & Sustainability auch Studienreisen macht – und zwar nicht nur „um die Ecke“, sondern bis nach Thailand, Singapur oder Kanada.
Ja, denn für international tätige Führungskräfte ist es entscheidend, über unterschiedliche Kulturen Bescheid zu wissen und interkulturelle Gegebenheiten zu beachten. Daher haben wir diese Studienreisen verpflichtend in den Lehrplan aufgenommen, wobei es für die Studierenden weniger eine Pflicht ist, wie sich in den vergangenen Jahren gezeigt hat. Vielmehr nehmen sogar ehemalige Studierende daran teil, unter anderem weil sie wissen, wie wichtig das Netzwerk ist – im International Business eben auf internationaler Ebene.
Neben diesen außereuropäischen Reisen planen wir übrigens im Frühjahr kommenden Jahres eine Reise nach Schweden, um ein Startup zu besuchen, das innovative Verschlüsse auf Naturfaserbasis entwickelt. Und wenn wir schon in Schweden sind, wollen wir uns auch Gemeinden anschauen, bei denen Nachhaltigkeit in einer Art und Weise gelebt wird, von der wir hier nur träumen können. Der Kontakt ist übrigens durch einen ehemaligen Studenten von mir entstanden, der ebendort arbeitet.
Womit wir wieder beim Netzwerk wären. Bei Zukunft Neu Denken nennen wir dieses ja die „Schaltzentrale“ der Plattform. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob jemand bereits über jahrelanges Wissen verfügt oder ganz neu im Feld der Zukunft ist. Wir können alle voneinander lernen und profitieren.
Stimmt. Der Austausch ist so wichtig, denn dabei entstehen neue Ideen. Manche davon sind umsetzbar, andere nicht. Doch darum geht es in erster Linie gar nicht. Stehenbleiben ist Rückschritt. Natürlich verfügen wir Lehrenden über mehr Fachwissen, doch oftmals braucht es eben diesen neuen Blick von außen, den die Studierenden mitbringen. Im Alltag ist das für mich zwar manchmal eine Herausforderung, weil ich meinen Lehrplan immer wieder über den Haufen schmeiße und neu aufstelle. Aber es liegt halt auch in meiner Natur, vorwärts zu denken und die jungen Menschen auf die Zukunft vorzubereiten.
Da bekommt man richtig Lust, wieder zu studieren. Danke für das schöne Gespräch, Barbara!
Zur Person: Prof. Dr. Barbara Niersbach
… ist Studiendekanin des berufsbegleitenden Master-Studiengangs „International Business Management & Sustainability“ an der RWU Hochschule Ravensburg-Weingarten, Professorin für B2B-Marketing and Sales und Auslandsbeauftrage der Fakultät. Die studierte Dilpom-Kauffrau war zuvor mehrere Jahre im Lebensmitteleinzelhandel und Industriebereich tätig, wo sie – zuerst als Verkaufsleiterin bei der Lidl Waldenburg GmbH & Co.KG und im Anschluss als Marketing Managerin in einem Unternehmen für technische Keramik – in die Welt des B2B-Managements eintauchte. 2016 promovierte die Mutter von zwei Kindern an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Neben ihrer Tätigkeit an der RWU ist Barbara zudem Dozentin im internationalen MBA an der Kempten Professional School of Business & Technology sowie am Management Center Innsbruck und Partner beim Coaching- und Consulting-Unternehmen KAM Experts.
…und übrigens: Klaus Kofler bietet zusammen mit Holger Bramsiepe von unserer Schwesterorganisation Future Design Akademie im Rahmen des Masterstudiengangs „Betriebswirtschaftslehre und Unternehmerisches Handeln“ das Wahlfach Zukunftsdesign an. Dabei lernen die Studierenden Zukunftsdesign als einen organisationalen Gestaltungsprozess verstehen und anwenden.