Plattform für verantwortungsvolle und mutige Zukunftslobbyisten

Während wir uns auf die aktuelle Situation konzentrieren und versuchen, das Beste daraus zu machen, gilt es gleichzeitig, im Sinne der Zukunft nachhaltig und weitblickend zu agieren. Bei diesem Spagat zwischen zwei Extremen ist Ambidextrie nahezu unabdingbar – und zugleich unbequem, weil ungewohnt bzw. fremd. Der Begriff setzt sich aus dem lateinischen „ambo“ für „beide“ und „dextra“ für „geschickt“ zusammen. An sich handelt es sich also um Beidhändigkeit und somit die Fähigkeit, die rechte und die linke Hand gleich gut benutzen zu können. Und das können nur die wenigsten – nicht nur, weil wir (anderen) es nicht können, als vielmehr, weil wir es nie können mussten.
Im Managementbereich ist der Begriff seit einigen Jahrzehnten angekommen. Oder sagen wir so: Zumindest wurde er als „organisationale Ambidextrie“ bereits 1976 vom US-amerikanischen Organisationsdesigner Robert B. Duncan erstmals ins Spiel gebracht. Demnach ist es für Unternehmen entscheidend, sowohl Neues zu erkunden und zu erforschen (Exploration) als auch Bestehendes auszunutzen und zu optimieren (Exploitation). Organisationen müssen somit im Sinne der Ambidextrie zugleich effizient und flexibel sein – oder, wie Jan-Erik Baars sagen würde, eine Entwurfs- und Exzellenzkultur leben.

Die Welt löst sich auf

Inwiefern das in den Unternehmen tatsächlich der Fall ist, steht freilich auf einem anderen Blatt geschrieben und soll an dieser Stelle gar nicht weiter erörtert werden. Auch weil es ohnehin viel zu klein gedacht ist. Schließlich besteht das Leben erstens nicht nur aus Arbeit und zweitens findet Wandel genauso rasch und umfassend im privaten Alltag wie im wirtschaftlichen Umfeld statt. Wenn wir also mit dieser sich so rasch verändernden Welt Schritt halten wollen, müssten wir eigentlich von klein auf im übertragenen Sinn beidhändig unterwegs sein und langfristig zu einer „ambidextrischen“ Gesellschaft werden.
Bislang war das jedoch nicht nötig. Denn in der linear und industriell geprägten Welt war Beidhändigkeit nebensächlich. Der Laden lief und wir konnten der Zukunft mit Verbesserungen à la „Jetzt noch besser…“ begegnen. Nun sorgen Digitalisierung, Globalisierung und vor allem eine immer noch größere Veränderungsdynamik dafür, dass Produkte und Dienstleistungen obsolet werden. Ganze Branchen und Märkte lösen sich quasi vor unseren Augen auf. Die Form der bisherigen Produktentwicklung und die Art, wie wir Innovation betrieben haben, funktionieren nicht mehr. Unser Handeln greift zu kurz und das „alte Denken“ kann mit dieser Kurzfristigkeit und Schnelllebigkeit nicht umgehen. Dabei wird das Wechselspiel zwischen dem Rational-Wirtschaftlichen, das auf Fakten, Studien und Erfahrungen beruht, und dem Kreativ-Emotionalen, also dem Gestalterischen und Anwendbaren, immer wichtiger.

Ambidextrie macht Schule

Ambidextrie ist übrigens kein fertiges Konstrukt, das einmal erlernt, in jeder Lebenslage angewendet werden kann. Vielmehr handelt es sich um eine Fähigkeit, die sich aus einem Mindset im Sinne eines offenen Zugangs kontinuierlich weiterentwickelt. Es ist eine Art Kulturtechnik, die sich nur dann entfalten kann, wenn es dafür auch passenden Rahmenbedingungen gibt. Und das fängt, wie so oft, bereits im Bildungsbereich an bzw. sollte es dort anfangen. Denn bis dato haben wir es ebendort nach wie vor mit Strukturen zu tun, die aus einem industriell geprägten Zeitalter stammen. Diese gilt es aufzubrechen und Kinder, Jugendliche sowie junge Erwachsene vollumfänglich mit der Beidhändigkeit vertraut zu machen. Wir sollten schon in jungen Jahren lernen, die Dinge auf einer wissens- und faktenbasierten Ebene anzugehen und zugleich kreativ in die Vollen des Anwendbaren zu gehen. Denn wir können nicht wie bisher zuerst das eine und dann das andere machen. Wir müssen unser Tun tatsächlich in den Parallelbetrieb bringen. Da uns diese Fähigkeit aber nicht in die Wiege gelegt wurde, sollten wir geistes- und naturwissenschaftliche Ausbildungen um kreative Komponenten ergänzen. Wir müssen über den fachlichen Tellerrand schauen und Inter- bzw. noch besser Multidisziplinarität fördern, das eine mit dem anderen abgleichen und in Verbindung setzen. Wir können nicht auf Knopfdruck kreativ sein – schon gar nicht, wenn es einem in der Schule abgewöhnt wird.

 

Ambidextrie: Beidhändig in die Zukunft (© Quino Al, Unsplash)
Was, wenn die nächsten Generationen lernen würden, dass eben nicht nur Disziplin, Ordnung und Wissen erforderlich sind, sondern auch Neugier, Mut und Kreativität in Kombination die Lösungen für eine Welt von Morgen aufzeigen? Was, wenn wir es uns angewöhnen bzw. nie abgewöhnen würden, neugierig an die Dinge heranzugehen, das eigene Tun gegebenenfalls zu korrigieren, um daraufhin erneut Mut zu fassen und immer wieder aufs Neue zu üben und anzuwenden? Was bräuchte es, damit das Bildungssystem nicht mehr der schleichende Tod der Kreativität ist?

New Business

Auch in Unternehmen brauchen wir Rahmenbedingungen, die weit über Kreativ-Workshops, Cross-Thinking, Canvas-Modelle, Innovation Circles oder Breakout-Rooms hinausgehen. Geschäftsführung, Führungskräfte und Mitarbeiter sollten die beiden Seiten der Ambidextrie-Medaille nicht nur verstehen, sie müssen sie beherrschen. So gilt es, Teams zu formen und ein Mindset zu schaffen, das gleichzeitiges Handeln und Denken verinnerlicht hat. Dass bei einer derart neuen Innovationskultur hierarchische Strukturen aus industriellen Zeiten fehl am Platz sind, versteht sich von selbst. Erst wenn Hierarchien beseitigt sind, wird jeder Einzelne danach streben, Produkte und Dienstleistungen nicht nur zu optimieren, sondern sie gänzlich neu zu denken. Tradition und Innovation müssen tatsächlich Hand in Hand gehen und nicht nur als Werbeslogan nach außen getragen werden. Wir haben keine Zeit mehr, die Dinge nur ein Stückweit zu verbessern.

Wenn es um die Zukunft geht, haben wir es seit geraumer Zeit mit einer Welt des „sowohl-als auch“ zu tun. Soll heißen: Es gibt nicht mehr die eine richtige Entscheidung, sondern immer eine Vielzahl anderer Möglichkeiten. Die Dinge gestalten sich als Wechselspiel, verflüssigen sich regelrecht und entwickeln sich gerade dadurch weiter. Das Leben mit all seinen Facetten wird zum Prozess, bei dem sich alles gegenseitig beeinflusst und ineinander übergeht.

Je mehr wir die Liquidität der Dinge und Fähigkeiten akzeptieren und sie anwenden können, umso leichter wird es uns fallen, zwei vermeintlich gegensätzliche Pole wie Handeln und Denken, Gegenwart und Zukunft in Einklang zu bringen. Wenn wir das schaffen, wird sich auch der Bruch zwischen dem Heute und Morgen auflösen. Dann werden wir uns nicht mehr im gegenwärtigen Leben verlieren und einen Disconnect zur Zukunft verspüren. Vielmehr wird es ein Leichtes sein, uns um aktuelle Bedürfnisse zu kümmern und uns gleichzeitig fit für die Zukunft zu machen.

Beidhändig nach den Sternen greifen

Es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft, Ambidextrie zu einer Kulturtechnik zu machen, sodass jeder einzelne einen unbändigen Willen verspürt, das Bestehende zu verbessern und zugleich grundlegend Neues zu gestalten. Werden wir hier und heute konkret, während wir wissenschaftlich und abstrakt über die Welt von morgen nachdenken. Lassen wir Technologie und Ästhetik ineinanderfließen. Denken und machen wir die Welt neu und begeben wir uns dabei ruhig mal ins Hamsterrad – nicht um uns auszupowern, sondern um zu merken, dass wir der Zukunft gar nicht entkommen können. Hören wir auf, Workshops zu veranstalten. Kümmern wir uns vielmehr um einen neuen Workflow. Trauen wir uns, Fehler zu machen, um im selben Moment aus ihnen zu lernen und die Dinge sogleich komplett neu zu denken und anzugehen. Das Einzige, was wir falsch machen können, ist nur das eine oder das andere zu machen – oder noch schlimmer gar nichts zu machen. Also packen wir die Welt heute an, um morgen schon beidhändig nach den Sternen gegriffen zu haben.

 

Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Holger Bramsiepe, Zukunftsgestalter bei der Future Design Akademie sowie Managing Partner der Generationdesign GmbH in Wuppertal.

 

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weiter neu denken

Zum Jahresabschluss habe ich mir in einem Feedbackgespräch mit unserer Geschäftsführung gewünscht, dass ich im kommenden Jahr wieder mehr neues lernen möchte. Meinen Horizont erweitern und neue Perspektiven gewinnen möchte. Wer die Zukunft gestalten will, der muss offen für Neues sein – Neues aufsaugen, aufnehmen, inhalieren, die Dinge neu formen. So in etwa stellte ich mir das für 2023 zumindest vor. Irgendwie lebendig, aktiv und vorwärts.
Doch während der Feiertage bin ich in den inneren Diskurs gegangen. Das Jahr 2022 war für mich – um es in einem Wort zu sagen – voll. Voll im Sinne des sprichwörtlichen Fasses, dass nicht nur droht überzulaufen, sondern dies auch tat. Und so war mir plötzlich klar, dass mein Wunsch für 2023 nicht darin besteht, dieses bereits volle Fass weiter aufzufüllen. Vielmehr wünsche ich mir für das anstehende Jahr ein halb volles Fass – wobei die Betonung auf voll liegt, denn halb leer ist keine Option für mich.

Braucht es wirklich mehr?

Ich bin davon überzeugt, dass es viel positiver Energie von uns allen bedarf, eine gute und glückliche Zukunft zu gestalten. Doch wie soll das gehen, wenn wir ständig kurz vor dem Überlaufen stehen? Brauchen wir tatsächlich immer noch mehr Neues? Müssen wir uns wirklich kontinuierlich neues Wissen aneignen? Ist es sinnvoll bzw. erstrebenswert, im Hamsterrad von mehr, mehr und nochmals mehr zu bleiben? 
Meiner Meinung nach nein. Nicht höher, weiter und schneller sollte die Prämisse sein, sondern partizipativer, sinnhafter und empathischer. Achtsamer im Umgang mit unseren Ressourcen – unseren eigenen, die unserer Mitmenschen und die der Erde. Wir stehen vor großen Herausforderungen. Doch müssen wir Neues lernen, um diese Herausforderungen zu meistern und zu bestehen.

Verlernen, um zu lernen

Ich habe meine Zweifel und frage mich, ob wir nicht lieber verlernen sollten? Ein Verlernen von Glaubenssätzen, von Paradigmen, von „das haben wir schon immer so gemacht“. Können wir durch aktives Verlernen Raum für neue Perspektiven schaffen, Bilder einer Zukunft, die frei von den Grenzen der eigenen erlernten Kultur ist? Frei von den Grenzen im Denken der Möglichkeiten?
Je mehr ich darüber nachgedacht habe (und nach wie vor nachdenke), umso einfacher erscheint es mir, Neues zu lernen, als Bestehendes und Gewohntes zu verlernen. Und wer weiß: Vielleicht bietet gerade das Verlernen bzw. der Prozess des Verlernens ungeahnte Möglichkeiten für Veränderungen, Wandel und neue Erfahrungen?
Für mich ist Lernen Gegenwart. Verlernen ist Zukunft. Und lernen zu verlernen, um dabei zu lernen, ist Zukunftsgestaltung.

Über die Autorin…

Janina Clever leitet als Industrie Designerin bei Generationdesign in Wuppertal komplexe Design- und Strategieprojekte. Die studierte Arbeits- und Organisationspsychologin setzt auf nachhaltigen Mehrwert und Nutzen, der durch agile und interdisziplinäre Austauschformate und Arbeitsmethoden entsteht. Dabei sieht sie in der Fusion von digitalen und realen Formaten für die Zukunft noch unentdeckte Potenziale. Janina Clever ist außerdem Teil des Zukunftsrates von Zukunft Neu Denken.

 

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Müssen wir lernen zu verlernen?

Lebenslanges Lernen ist in aller Munde. Janina Clever aber fragt sich: Müssen wir tatsächlich immer mehr wissen? Oder sollten wir nicht lieber lernen zu verlernen?

2.562 Menschen starben 2021 auf Deutschlands Straßen, in Österreich waren es 359. In den meisten Fällen sind diese auf nicht angepasste Fahrgeschwindigkeit, Unachtsamkeit bzw. Ablenkung und Vorrangverletzung zurückzuführen. Mit anderen Worten: Verkehrsunfälle haben meist eines gemeinsam – nämlich menschliches Fehlverhalten. Und das lässt sich ändern. Schon durch das Einhalten von Tempolimits und sonstigen Vorschriften sowie durch kontrolliertes und achtsames Fahren könnte dazu beigetragen werden, dass sich die Zahl der Verletzten und Toten im Straßenverkehr deutlich reduziert. Und nicht zuletzt könnte jeder einzelne für die eigene Sicherheit sorgen. Denn Tatsache ist: Hinter jedem Steuer stecken Menschen und Geschichten.

Crash-Kurs

In der Verkehrspolitik spielt das Thema Verkehrssicherheit europaweit eine wichtige Rolle. So wurden beispielsweise Maßnahmen festgelegt, um bereits bei der Fahrzeugherstellung besonders gefährliche Stoffe zu vermeiden und die Wiederverwendung sowie Verwertung von Fahrzeugen mit Totalschaden und deren Bauteile zu intensivieren. Ein von der Versicherung festgestellter (wirtschaftlicher) Totalschaden bedeutet also nicht automatisch, dass das Fahrzeug Schrott ist. Schließlich besteht ein Auto aus rund 10.000 Einzelteilen, die von Hersteller zu Hersteller unterschiedlich sind. Universal-Teile gibt es nicht, was ein Crash-Fahrzeug in gewisser Weise zum begehrten Ersatzteillager macht. Das am häufigsten ausgebaute Ersatzteil, bevor ein Auto verschrottet wird, ist übrigens der Katalysator, in dem sich unter anderem seltene Metalle befinden.

Eine Frage der Mobilität

Die Frage aber ist nicht nur, was passiert mit geschredderten Fahrzeugteilen – die werden sortiert und weiterverarbeitet. Sondern auch: Was passiert mit dem Menschen, der hinter dem Steuer gesessen hat – egal, ob sein Auto aufgrund eines Unfalls auf dem Schrottplatz gelandet ist oder schlichtweg, weil es nicht mehr zugelassen werden konnte? Steht das neue, noch größere, noch schnellere, noch bessere Fahrzeug bereits in der Garage? Oder setzt man auf einen kleineren Straßenflitzer, auf E-, Hybrid- oder eine andere Alternative? Oder kommt man sogar ohne Auto durchs Leben? Steigt man möglicherweise auf ein motorisiertes Zweirad um oder tritt man gar in die Pedale? Und wie schaut es mit den Öffis aus?
Um all die Fragen auf einen Punkt zu bringen: Was braucht es, damit Mobilität in Zukunft anders gedacht wird bzw. werden kann?

 

Über den Fotografen

Die Bilder wurden von Bence Szalai aufgenommen. Der Fotograf und Filmemacher möchte den Blick des Betrachters auf die Details lenken. Er sieht seine Arbeit als das Radio, den Schallplattenspieler oder den Lautsprecher, über den die Musik abgespielt bzw. gehört wird und dessen Qualität das Hörerlebnis maßgeblich beeinflusst.
www.rnbpictures.com

 

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Disconnect,Fotostrecke

Nur ein Kratzer: Mobilität nach dem Schrottplatz

Hinter jedem Steuer steckt eine Geschichte. Warum ein Crash-Car mehr als nur Schrott ist und wieso wir Mobilität neu denken sollten. Eine Fotostrecke von Bence Szalai.

Im Kreuzworträtsel hat das Vertrauen in die Zukunft acht, manchmal zehn Buchstaben. Im echten Leben benötigen wir dafür wesentlich mehr Buchstaben. Und immer öfter fehlen uns die Worte, wenn es darum geht, vertrauensvoll in die Welt von morgen zu schauen. Das zeigte etwa eine im Frühjahr 2022 vom SORA-Institut durchgeführte Umfrage unter rund 24.000 jungen Österreichern zwischen 16 und 25 Jahren. Diese nämlich ergab, dass es nicht gerade zum Besten steht mit dem Vertrauen in die Zukunft. Vor allem der Krieg in der Ukraine (84 %) bereitet der Generation Z Sorgen, aber auch der Klimawandel (67 %), die immer breiter werdende Schere zwischen Arm und Reich (59 %) sowie Pandemie und Wirtschaftskrise (jeweils 55 %). Dass dabei nur wenig Vertrauen in die Zukunft aufkommt, habe laut Umfrage insbesondere damit zu tun, dass wir bei den großen Zukunftsthemen – von der zunehmenden ökonomischen Ungleichheit über den Klimawandel bis hin zur Pflegeproblematik, Energiewende und Bildung – schlecht unterwegs sind. Wobei mit „wir“ eigentlich die Politik gemeint ist, denn diese handle schon seit Jahren zu kurzfristig und zu populistisch, sind 88 % der Befragten überzeugt.
Dass auch andere Generationen – ob Y, X, Babyboomer oder wie sie sonst noch so heißen – eher misstrauisch in Richtung Zukunft schielen, bedarf wohl keiner weiteren Umfragen. Doch wäre es zu kurz gedacht, den politischen Entscheidungsträgern den schwarzen Peter zuzuschieben, sich zurückzulehnen und abwartend Däumchen zu drehen. Zum einen, weil es nicht so ausschaut, als würde sich die Politik alsbald und voller Tatendrang um die anstehenden Herausforderungen bemühen. Und zum anderen ist es nicht nur Aufgabe der Politik, sich um Lösungen für die aktuellen Probleme zu bemühen. Dessen sind sich die Jungen übrigens durchaus bewusst: So sind 71 % der Meinung, dass wir alle unseren Lebensstil verändern müssen, um beispielsweise den Klimawandel zu bekämpfen.

Es liegt an uns selbst

Dass wir das Ruder selbst herumreißen, Verantwortung übernehmen und mutig (voran)gehen können, stimmt positiv – zumindest mich. Eine entscheidende Rolle spielt dabei allerdings das Vertrauen. Dieses sorgt nämlich unter anderem dafür, dass wir uns wohlfühlen und zuversichtlich sind. Was aber, wenn man sich eben hinsichtlich der Zukunft mit dem Vertrauen schwertut? Wie soll man Zuversicht schöpfen, wenn einen nur mehr Sorgen und Ängste plagen? Wie soll man sich wohlfühlen, wenn sich alles nur noch schlecht anfühlt?
Was das Wohlbefinden angeht, sollten wir wissen, dass dieses weniger mit dem zusammenhängt, was kommt, als vielmehr mit dem, was ist und was war – also mit den aktuellen Erlebnissen sowie mit unseren Erinnerungen. In seinem Weltbestseller „Thinking, Fast and Slow“ beschreibt der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann unter anderem das Konzept der zwei Selbste: So haben wir ein erlebendes Selbst, das sich andauernd mit der Frage beschäftigt: „Fühle ich mich gerade wohl oder tut es weh?“ und zugleich ein erinnerndes Selbst, dass die Frage beantwortet: „Wie war es im Großen und Ganzen?“ Kahnemann ist mittlerweile davon überzeugt, dass das eigene Wohlbefinden nicht nur damit zu tun hat, wie es uns mit dem, was wir gerade erleben, geht, sondern dass wir immer auch Urteile und Bewertungen über das bereits Erlebte einfließen lassen. Oder um es mit seinen Worten zu sagen:

„Wir müssen uns mit der Komplexität einer hybriden Sichtweise abfinden, bei der das Wohlbefinden beider Selbste berücksichtigt wird.“

Gehe ich nun davon aus, dass mein Wohlbefinden in der Zukunft sowohl davon abhängt, was ich in Zukunft erleben werde, als auch davon, was ich in der Vergangenheit erlebt habe, dann sollten wir doch alles daransetzen, heute schon positive Erinnerungen zu schaffen, sodass wir morgen eine Welt haben, in der wir uns wohlfühlen können.

Vertrauen lernen

Soweit so gut. Um das Vertrauen in die Zukunft steht es trotzdem noch nicht besser bestellt? Das mag daran liegen, dass wir in die Zukunft gar nicht vertrauen können. Nicht, weil sie sich chaotisch, alles andere als planbar und sicher präsentiert, uns im Gegenteil Rätsel aufgibt und die eine oder andere Sorgenfalte beschert. Das ist eine Tatsache, die wir akzeptieren und mit der wir leben müssen. Der Grund, warum wir der Zukunft nicht vertrauen können, ist, dass Vertrauen immer mit Menschen zu tun hat – mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen, vom engsten Familienkreis über entfernt Bekannte bis hin zur Gesellschaft generell. Sowohl das Selbst- als auch das Vertrauen gegenüber anderen ist eng mit Erfahrungswerten verbunden. So haben wir beispielsweise schon früh gelernt, ob wir auf uns selbst und unseren Fähigkeiten und/oder auf andere Menschen bauen können. Vertrauen ist folglich eine erlernte Entscheidung. Und das ist gut, denn somit liegt es erstens an uns, ob wir vertrauen oder nicht. Und zweitens können wir es wieder lernen – sofern uns das Vertrauen abhandengekommen ist.

Hoffnungsvoll ins Morgen

Wenn wir vom Vertrauen in die Zukunft sprechen, geht es also darum, den eigenen Fähigkeiten als auch anderen Menschen zu vertrauen und darauf, dass man gemeinsam den Weg meistern wird. Es gilt, (wieder) Zuversicht zu erlangen und sich beim Gedanken an die Welt von morgen wohl zu fühlen. Das lässt die Hoffnung auf eine gute Zukunft immer noch nicht wachsen, schließlich – so das allgemeine „Totschlagargument“ – weiß niemand, was kommen wird. Befasst man sich aber genauer mit dem Thema Vertrauen, schaut die Sache anders aus.
Der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858-1918) beschrieb Vertrauen als einen Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen, eine „Hypothese künftigen Verhaltens“, auf die wir konkretes Handeln gründen. Wer vertraut, geht also bewusst und im guten Glauben davon aus, dass man selbst und/oder die Mitmenschen sich so oder so verhalten und dass sich in der Folge eine Sache so entwickelt, wie es versprochen wurde oder wie man es erhofft hat. Ob diese dann tatsächlich so eintritt, ist eine andere Sache und für den ersten vertrauensvollen Schritt gar nicht entscheidend. Viel wichtiger ist, dass wir Vertrauen als ein reißfestes Band begreifen, an dem wir uns auf dem Weg ins Neue, Unbekannte – oder eben in die Zukunft – anhalten und orientieren können, sogar dann, wenn Umstände (noch) unsicher erscheinen. Genauso aber sollten wir uns auch darüber im Klaren sein, dass sich Vertrauen ungeheuer schnell und durch kleinste Dinge zerstören lässt.

Was und wen bringst du mit?

Inwiefern wir anderen Menschen vertrauen (können), ist freilich so eine Sache. Doch uns selbst können oder vielmehr müssen wir auf jeden Fall vertrauen. Mit Blick in die Zukunft bedeutet das, sich seiner Fähigkeiten und Begabungen, seiner Charaktereigenschaften, seiner Werte und Haltungen bewusst zu werden. Diese sind sozusagen die Werkzeuge, die uns helfen, Situationen im Jetzt, aber auch im Morgen zu meistern und anstehende Aufgaben zu lösen.
Also: Über welche Fähigkeiten und Kompetenzen verfügst du? Was kannst du gut? Was kannst du, was viele andere nicht (so gut) können? Welche Kenntnisse und Leidenschaften treiben dich an? Worüber möchtest du immer mehr wissen? Was weckt deine Neugier, deinen Wissensdrang? Womit beschäftigst du dich intensiv – mehr als die meisten Menschen? Welche Werte vertrittst du? Welche Werte sind dir wichtig? Was gibt deinem Leben Sinn und Richtung? Welche Stärke macht dich aus, für welche Tugend stehst du, welche besondere Eigenschaft verkörperst du?
Neben all dem, was wir selbst mitbringen, kommt es auf Beziehungen, auf Gruppen und Gemeinschaften an, denen wir angehören. Womit wir wieder bei den Mitmenschen wären. Denn Tatsache ist: Gemeinsam können wir besser für unsere Interessen eintreten, uns gegenseitig motivieren und uns durch gegenseitiges Vertrauen stärken. Spätestens dann kennen wir des (Kreuzwort-)Rätsels Lösung und wissen, dass „Vertrauen in die Zukunft“ Hoffnung oder Zuversicht oder noch besser beides zusammen bedeutet.

 

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Christiane Mähr,Featured,Vertrauen

Vertrauen wir uns mal selbst – dann der Zukunft

Warum wir gar nicht in die Zukunft vertrauen können, was das mit Ängsten und Sorgen, Erinnerungen und Erlebnissen zu tun hat und warum wir es selbst in der Hand haben, mutig in die Zukunft zu gehen und dabei andere an der Hand nehmen sollten.