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Zukunftslernen

Zum Jahresabschluss habe ich mir in einem Feedbackgespräch mit unserer Geschäftsführung gewünscht, dass ich im kommenden Jahr wieder mehr neues lernen möchte. Meinen Horizont erweitern und neue Perspektiven gewinnen möchte. Wer die Zukunft gestalten will, der muss offen für Neues sein – Neues aufsaugen, aufnehmen, inhalieren, die Dinge neu formen. So in etwa stellte ich mir das für 2023 zumindest vor. Irgendwie lebendig, aktiv und vorwärts.
Doch während der Feiertage bin ich in den inneren Diskurs gegangen. Das Jahr 2022 war für mich – um es in einem Wort zu sagen – voll. Voll im Sinne des sprichwörtlichen Fasses, dass nicht nur droht überzulaufen, sondern dies auch tat. Und so war mir plötzlich klar, dass mein Wunsch für 2023 nicht darin besteht, dieses bereits volle Fass weiter aufzufüllen. Vielmehr wünsche ich mir für das anstehende Jahr ein halb volles Fass – wobei die Betonung auf voll liegt, denn halb leer ist keine Option für mich.

Braucht es wirklich mehr?

Ich bin davon überzeugt, dass es viel positiver Energie von uns allen bedarf, eine gute und glückliche Zukunft zu gestalten. Doch wie soll das gehen, wenn wir ständig kurz vor dem Überlaufen stehen? Brauchen wir tatsächlich immer noch mehr Neues? Müssen wir uns wirklich kontinuierlich neues Wissen aneignen? Ist es sinnvoll bzw. erstrebenswert, im Hamsterrad von mehr, mehr und nochmals mehr zu bleiben? 
Meiner Meinung nach nein. Nicht höher, weiter und schneller sollte die Prämisse sein, sondern partizipativer, sinnhafter und empathischer. Achtsamer im Umgang mit unseren Ressourcen – unseren eigenen, die unserer Mitmenschen und die der Erde. Wir stehen vor großen Herausforderungen. Doch müssen wir Neues lernen, um diese Herausforderungen zu meistern und zu bestehen.

Verlernen, um zu lernen

Ich habe meine Zweifel und frage mich, ob wir nicht lieber verlernen sollten? Ein Verlernen von Glaubenssätzen, von Paradigmen, von „das haben wir schon immer so gemacht“. Können wir durch aktives Verlernen Raum für neue Perspektiven schaffen, Bilder einer Zukunft, die frei von den Grenzen der eigenen erlernten Kultur ist? Frei von den Grenzen im Denken der Möglichkeiten?
Je mehr ich darüber nachgedacht habe (und nach wie vor nachdenke), umso einfacher erscheint es mir, Neues zu lernen, als Bestehendes und Gewohntes zu verlernen. Und wer weiß: Vielleicht bietet gerade das Verlernen bzw. der Prozess des Verlernens ungeahnte Möglichkeiten für Veränderungen, Wandel und neue Erfahrungen?
Für mich ist Lernen Gegenwart. Verlernen ist Zukunft. Und lernen zu verlernen, um dabei zu lernen, ist Zukunftsgestaltung.

Über die Autorin…

Janina Clever leitet als Industrie Designerin bei Generationdesign in Wuppertal komplexe Design- und Strategieprojekte. Die studierte Arbeits- und Organisationspsychologin setzt auf nachhaltigen Mehrwert und Nutzen, der durch agile und interdisziplinäre Austauschformate und Arbeitsmethoden entsteht. Dabei sieht sie in der Fusion von digitalen und realen Formaten für die Zukunft noch unentdeckte Potenziale. Janina Clever ist außerdem Teil des Zukunftsrates von Zukunft Neu Denken.

 

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Müssen wir lernen zu verlernen?

Lebenslanges Lernen ist in aller Munde. Janina Clever aber fragt sich: Müssen wir tatsächlich immer mehr wissen? Oder sollten wir nicht lieber lernen zu verlernen?

Ja, woran orientieren wir uns? Oder anders gefragt: Was bietet überhaupt noch Orientierung – nicht nur, aber vor allem in Zeiten wie diesen? Wobei mit Letzterem gar nicht mal so sehr die Corona-Pandemie gemeint ist, sondern eher die Tatsache, dass Veränderungen vermehrt in Echt-Zeit stattfinden. Noch bevor wir uns an etwas Neues gewöhnt haben, steht bereits der nächste Wandel an. Das war längst vor Corona der Fall. Allerdings hat uns diese Krise in gewisser Weise ins eiskalte Wasser der hyperschnellen Veränderungen geschmissen. So hat sich in den letzten beiden Jahren so gut wie jeder von uns in irgendeiner Art und Weise verändert – ob beruflich oder privat, ob gewollt oder gezwungenermaßen. Auch das war schon immer so, nicht zuletzt, weil wir uns stetig weiterentwickeln – zumindest die meisten von uns. Und doch ist es jetzt anders. Zum einen, weil es uns zum Teil eben von außen, um nicht zu sagen „von oben“ auferlegt wurde. Zum anderen wurde vielen von uns wohl erst jetzt klar, wie unglaublich schnelle sich unsere Welt verändert.

Planen war gestern

Wir sind es gewohnt zu planen: seien es die Termine der kommenden Woche, sei es der nächste Urlaub, seien es Hausbau oder Wohnungskauf, die Anschaffung eines neuen Autos oder (E-)Bikes – whatever. Und viele von uns sind in Zeiten aufgewachsen, in denen man solche Dinge auch noch planen konnte, in denen einem der vorgegeben Weg – Ausbildung, Job, Familiengründung, Hausbau, Pension – eine Form der Sicherheit und, ja, auch Orientierung gegeben hat. Ob man diesen Weg schlussendlich genauso gegangen ist, ist freilich eine andere Frage. Allein: Wir konnten zumindest derart langfristige Pläne schmieden. Heute scheint das nahezu sinnlos zu sein – schlichtweg, weil es an sich unmöglich ist. Und die letzten beiden Jahre haben uns in der Hinsicht regelrecht vorgeführt. Manch einer versucht nach wie vor zu planen. Andere haben mittlerweile damit aufgehört, weil es am Ende des Tages eben doch keinen Sinn ergibt, wenn morgen ohnehin wieder alles anders ist. Die derzeitige Situation ist durchaus mit einer Fahrt bei schlechter Sicht zu vergleichen. Wenn Nebelschwaden aufziehen, bräuchte man Anhaltspunkte wie die weißen Halbkreise, die man am Rande des Autobahnstreifens sieht und die einem Aufschluss darüber geben sollen, wie schnell man bei Nebel fahren sollte. Den dritten der im Abstand von jeweils 33 Meter hintereinander aufgemalten Halbkreise sehen wir schon lange nicht mehr. Den zweiten glaubt man noch ausmachen zu können. Doch wenn wir ehrlich sind, können wir nur noch den ersten Halbkreis erkennen – und manchmal bereitet sogar das Schwierigkeiten.

Vorhersage für Morgen: Nebel

Sollen wir also auf die Bremse steigen und unvermittelt stehen bleiben? Was würde passieren, würden wir es tatsächlich tun? Wenn nicht auch alle anderen so denken, hätte die eigene Vollbremsung einen Riesencrash mit erheblichen Aus- und Nachwirkungen zur Folge. Sollten die anderen ebenfalls vom Gas gehen, hätten wir es mit einem Stillstand zu tun, bei dem nicht absehbar ist, wann es wieder weitergeht. Denn wer weiß schon, wann sich die Nebelschwaden wieder lichten werden – wenn überhaupt. Genauso wenig wird sich die Welt, in der wir leben, langsamer verändern. Vielmehr wird sie sich immer öfter, wenn nicht sogar durchgehend in einem nebulösen, sprich für uns unklaren und mitunter rätselhaften Zustand präsentieren. Umgelegt auf unsere Zeit könnte man sagen: Wir befinden uns tagtäglich am Rande einer Nebelzone. Orientierung: Fehlanzeige. Dabei repräsentiert der erste halbkreisförmige Nebelpunkt das Heute, der zweite das Morgen und der dritte das Übermorgen. Die Zukunft ist somit eine unbekannte, nicht greifbare und gewissermaßen schleierhafte Zeitzone. Trotzdem oder gerade deshalb sollten wir lernen, mit ihr umzugehen und sie im Heute nach unseren Vorstellungen zu formen. Müssen wir dafür „auf Sicht fahren“? Ja und nein. Ja, wenn darunter verstanden wird, dass Zukunft die Folge der Entscheidungen ist, die wir heute treffen. Insofern macht es nämlich sehr wohl Sinn, uns auf das heute Sichtbare zu konzentrieren, ins Tun zu kommen und alles in die Wege zu leiten, um Morgen und Übermorgen erfolgreich zu sein. Wer beim Fahren auf Sicht jedoch darauf abzielt, immer und überall auf Nummer Sicher zu gehen, muss sich über zwei Dinge im Klaren sein: Erstens ist das nicht möglich und zweitens bringt es uns keinen Schritt weiter.

Wertvolle Zukunftsvisionen

Einmal mehr stellt sich somit die Frage: Was gibt uns in derart nebligen Zeiten Orientierung? Gesellschaftliche Strukturen, Gegebenheiten des Marktes, Wirtschaftsdaten, Politik oder andere äußere Faktoren können wohl schwerlich dafür herhalten. Und zwar nicht nur weil wir diese nicht direkt beeinflussen können, sondern insbesondere, weil sie sich in unserer schnelllebigen Zeit als zu instabil und nicht vertrauenswürdig erwiesen haben, als dass sie konstante Parameter sein könnten. Megatrends bilden ab, wie sich Gesellschaften auf unterschiedlichen Ebenen (höchstwahrscheinlich) entwickeln werden und können damit durchaus als wertvolle Hilfestellungen betrachtet werden. Sie sind – wie die Bezeichnung Megatrend vermuten lässt – groß, zum Teil schwer fassbar und langsam, wobei Letzteres auch so sein soll. Insofern können sie dem Einzelnen bei seinen persönlichen Entscheidungen im Hier und Heute Orientierung bieten. Konkrete Lösungen, Ziele oder Visionen aber geben sie keine – das wollen sie gar nicht.

Der deutsche Aktionskünstler Joseph Beuys hat einmal gesagt: „Die Zukunft, die wir uns wünschen, muss erfunden werden. Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen.“ Oder um Pippi Langstrumpf zu zitieren: „Ich mach‘ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt.“

Mit anderen Worten: Es liegt an uns selbst, Lösungen für das Morgen zu finden, denn wer nicht weiß, was und wohin er möchte, verhindert Veränderung und (Weiter-)Entwicklung. Wer im Nebel navigieren, zu den Sternen greifen und somit ins Tun kommen möchte, braucht Visionen. Untermauert werden diese durch Werte: Was braucht es, um die eigene Vision zu erfüllen? Worin möchte man Zeit und Energie investieren? Was bereitet Freude? Was ist wirklich wichtig, wenn es darum geht, Zukunft neu zu denken und das Morgen nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten – und zwar nachhaltig. Letzteres ist entscheidend, denn bei all der Konzentration auf die eigenen Visionen und Werte ist es unsere Pflicht als Individuum, als Unternehmen, Organisation oder Institution – kurz als Gesellschaft die Zukunft derart zu denken, zu planen und zu gestalten, dass sie für einen jeden von uns lebenswert bleibt.

Learning by doing par excellence

Visionen sind Möglichkeitsräume von morgen, Werte die dafür nötigen Triebfedern. Und beide zusammen geben Orientierung. Dass wir dabei dennoch flexibel bleiben müssen, haben uns die letzten beiden Jahre verdeutlicht. Corona hat uns irrsinnig viel abverlangt und tut es zum Teil nach wie vor. Trotzdem kann es auch als Spielwiese der Flexibilität betrachtet werden. Wann, wenn nicht jetzt, sollten wir anfangen, unsere Zukunft neu zu denken? Fakt ist: Herumsitzen und Warten bringt uns nicht weiter. Wir wissen nicht, wann diese Krise zu Ende sein, wie sich dieses Ende überhaupt zeigen und was danach sein wird. Was aber würde es ändern, wenn wir wüssten, dass die Pandemie morgen oder erst in x Jahren für beendet erklärt wird – sofern es überhaupt ein eindeutiges Ende geben wird? Auf all diese Fragen gibt es keine Antworten – nicht wegen Corona, sondern weil niemand die Zukunft vorhersagen kann. Wir werden nie wissen, was morgen und übermorgen passiert. In gewisser Weise befinden wir uns in einem Zustand des perfekten Umbruchs, der uns gleichzeitig mehr denn je die große Chance bietet, die eigene Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Und dafür brauchen wir keine Zukunftstrends oder sonstige Vorhersagen. Vielmehr gilt es, die Möglichkeiten zu sehen, die sich vor uns auftun. Es geht darum, den gedanklichen Trendbildern einen richtigen Raum zu geben und ins Tun zu kommen. Orientieren, Positionieren und Navigieren in unbekannten Zukunftsgefilden beginnt im Kopf. Der erste Schritt besteht darin, sich die richtigen Fragen zu stellen. Also auf was warten wir noch?

 

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Christiane Mähr,Orientierung

Haben wir die Orientierung verloren?

Woran orientieren wir uns eigentlich? Am Licht, das am Tunnelende (hoffentlich?!) aufscheint? Oder am roten Faden, der sich vermeintlich durch das eigene Leben zieht? Oder lassen wir uns vielleicht sogar von Steinen leiten, die uns in den Weg gelegt wurden? Frei nach dem Motto: „Wenn es schwierig wird, ziehe ich einfach den Hut und geh.“