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Zukunftsland

In vielen, einst rein ländlichen Regionen nimmt die Urbanisierung zu. Neben zunehmend städtischen Gebieten mit Industriezonen, dichter Besiedlung und einem schnell getakteten Leben, gibt es aber nach wie vor ländliche Strukturen: Dorfleben, viele Grünflächen, bäuerliche Bewirtschaftung und ein Alltag, der (noch) Luft zum Durchatmen lässt. Mitunter sind Seen und Berge mit satten Wiesen nicht weit, um sich an den Wochenenden wie im Urlaub zu fühlen. Derartige Gegensätze verleihen einer Region einen besonderen Charakter, bergen aber auch Sprengstoff. Und das obwohl Letzteres nicht sein müsste – oder um es mit den Worten der US-amerikanischen Schriftstellerin Audre Lorde zu sagen: „Es sind nicht unsere Unterschiede, die uns trennen. Es ist unsere Unfähigkeit, diese Unterschiede anzuerkennen, zu akzeptieren und zu feiern.“ Was, wenn wir Unterschiede als kulturelles Zukunftskapital betrachten und damit ein Kreativzeitalter einläuten würden?

Vielfalt leben

Doch was braucht es, damit wir der Vielfalt nicht nur Beifall zollen, sondern von dieser bunten Fülle auch profitieren können? Fakt ist: Wer sich auf das Trennende fokussiert, läuft Gefahr auseinanderzudriften. Folglich braucht es etwas Übergeordnetes, das uns vereint. So etwas, wie Räume, in denen sich die Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit entwickeln und entfalten können. Räume, die alles zulassen, was an Vielfalt eingebracht wird. Denn je unterschiedlicher die Menschen, umso unterschiedlicher die Möglichkeiten, die sich in diesen Räumen ergeben können. Unterschiede und Vielfalt sind notwendige Treiber. Doch erst durch das Zusammenspiel entstehen auch neue gemeinsame Möglichkeitsräume. Je unterschiedlicher sich diese Räume präsentieren, umso intelligenter, bunter und kreativer können sie werden.
Zukunft findet in solch kreativen Möglichkeitsräumen statt. Wenn wir an das Morgen denken und es gestalten wollen, spielt es daher eine entscheidende Rolle, dass wir all diese Unterschiede zulassen – seien es die Charakteristika der einzelnen Subregionen, seien es die Besonderheiten von Städten und Gemeinden, seien es die verschiedenen Unternehmen und Geschäfte, seien es die Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

Verantwortung übernehmen

Doch in einem Kreativzeitalter sind Räume bzw. Regionen nicht die einzige Gemeinsamkeit, die uns Menschen mitsamt unserer Vielfalt verbindet. Sie sind nur das, was schon vorhanden ist. Für gemeinsame Zukunftsbilder benötigen wir zudem ein kollektives Mind-Set. Kein Einheitsbrei, bei dem alle Unterschiede in einen Topf geworfen werden, um daraus eine scheinbare Einstimmigkeit und Eintönigkeit zu brauen.

Ein Kreativzeitalter braucht ein übergeordnetes Mind-Set, das Kreativität mit all seinen Facetten nicht nur zulässt, sondern sogar forciert. So kann aus Unterschiedlichkeit eine neue Form der Gemeinsamkeit entstehen.

Dabei sollten wir uns allerdings im Klaren sein, dass wir Verantwortung übernehmen müssen – für das eigene Leben, aber auch für die Mitmenschen und die jeweilige Region, in der wir leben. So braucht es beispielsweise eine funktionierende regionale Kreislaufwirtschaft, zu der jeder beitragen muss, da sie zum einen auf der Wiederverwertung von Produkten sowie Rohstoffen und zum anderen auf natürlichen Ressourcen und deren regenerativer Kapazität basiert. Ebenso braucht es Unternehmer, die neue Arbeitsmodelle schaffen und ihren Mitarbeitern dadurch auch Möglichkeiten eröffnen, sich beruflich und privat weiterzuentwickeln. Wir brauchen Landwirte, Senner und Künstler, IT-Spezialisten, Consulter und Menschen im Gesundheitswesen, altes Handwerk und neue Ideen, innovative Gastronomen, Dienstleister mit Engagement und Fachgeschäfte mit Leidenschaft. Dafür braucht es aber auch Menschen, die regional einkaufen und konsumieren und sich als Teil dieser Verantwortung sehen. Es braucht Städte mit eigenen Identitäten, mit denen sich die Bürger identifizieren können. Und es ist Aufgabe ebendieser Städte, soziale Begegnungen zu ermöglichen – in Form von öffentlichen Plätzen, einem umfassenden Bildungsangebot oder im Rahmen breiter und blühender kultureller Programme. Wenn Kommunikation und Kreativität stattfinden kann, können sich Menschen und Regionen entfalten. Dann wird Regionalität zu einem echten Alleinstellungsmerkmal und kann der Globalisierung tatsächlich die Stirn bieten.

 

Kreativzeitalter: Neue Sicht der Dinge

Wir werden unsere Regionen nur dann attraktiv und erfolgreich in die Zukunft führen, wenn wir einerseits eine gemeinsame wirtschaftliche, soziale und ökologisch nachhaltige Basis haben und andererseits die menschliche Komponente nicht außer Acht lassen. Und dafür brauchen wir Menschen, die als Denker, Lenker und Gestalter mitwirken wollen – von mutigen politischen Entscheidern bis hin zum verantwortungsbewussten Bürger.
Zukunft neu zu denken, bedeutet nicht, alte Traditionen über Bord zu werfen. Im Gegenteil. Nur wenn wir wissen, wo unsere Heimat ist, in der wir verwurzelt sind, schaffen wir außerdem einen tieferen Bezug im Sinne unserer Zukunftsbilder. Gerade deshalb wäre es wohl an der Zeit, eine neue Sicht auf die Dinge zu entwickeln, Begriffe wie Tradition, Wurzeln oder Heimat neu zu definieren. Auch Wachstum gehört von seiner über all die Jahre gewachsenen Auslegung entkoppelt: weg von der Fixierung auf Umsatz- und Gewinnsteigerung, hin zur persönlichen Entfaltung. Weg vom Bruttoinlandsprodukt hin zum kreativen Möglichkeitsraum, in dem die Menschen neues Wissen generieren und sich persönlich und gesellschaftlich weiterentwickeln können. Wir werden Regionen nur dann in die Zukunft führen können, wenn wir den Switch vom Industriezeitalter hin zu einem Kreativzeitalter schaffen und sich dadurch eine neue Wirtschaftslandschaft verbunden mit einer anderen Lebensweise entfalten kann.

Kreative Kultur

Wenn wir es schaffen, als Gemeinschaft eine gemeinsame neue Vision zu entwickeln, wohin wir aufbrechen und wie wir in Zukunft leben wollen, werden wir auch in der Lage sein, jene Zukünfte zu bauen, die wir dafür brauchen. Wenn wir überregionale, kreative Gestaltungsspielräume eröffnen, in denen gerade die Unterschiedlichkeit eine neue Gemeinsamkeit schafft, die sich gegenseitig beeinflusst und verstärkt, wird uns die ganze Welt offenstehen. Kurz und gut: Wenn wir Zukunft neu denken und sie nicht nur aus der eigenen, sondern aus einer gemeinsamen und übergeordneten Perspektive betrachten, wird uns das Morgen Möglichkeiten offenbaren, die wir uns heute noch nicht einmal erträumen können.

 

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Christiane Mähr,Klaus Kofler,Transformation

Da liegt was in der Luft: Auf ins Kreativzeitalter

Wenn wir über das Morgen nachdenken, sollten wir uns weniger fragen, was die Zukunft bringt. Vielmehr geht es doch darum, welche Zukünfte eine Region realisieren kann. Und was es dazu braucht. Gedanken von Christiane Mähr und Klaus Kofler

Die Verstädterung nimmt zu. Gleichzeitig ziehen die Menschen vermehrt aufs Land – nicht erst seit der Pandemie. Inwiefern passt das zusammen?
Stimmt. Es ist allerdings nur ein scheinbarer Gegensatz, denn die Menschen ziehen nicht in die Pampas, sondern siedeln sich in einem Umkreis von bis zu 100 km rund um die großen Metropolregionen an. Diese natürliche Abwanderung hat vor gut fünf Jahren angefangen und wurde durch die Pandemie verstärkt. Nun haben wir einerseits eine Zunahme der Verstädterung, andererseits aber eben auch immer größer werdende Ballungsräume rund um die Städte.

Das Home Office wird also bleiben. Immerhin lebt man auf dem „Land rund um die Stadt“ ja nicht abgeschottet, sondern arbeitet von zuhause aus.
Genau. Doch es ist nicht mehr so wie rund um die Jahrtausendwende, als man wegen des aufkommenden ersten Internethypes dachte, dass man überall arbeiten kann – also auch im hintersten Wald oder am Strand. Fakt ist: Ein Kreativer allein verhungert im Waldviertel. Diejenigen, die jetzt aufs Land ziehen, wollen und brauchen soziale Interaktion und Vernetzung. Entsprechend wichtig ist es, dass die Kommunen das verstehen. In Brandenburg wird das beispielsweise hervorragend umgesetzt. Da werden die Bürgermeister der umliegenden Regionen in den digitalen Berliner Szenen aktiv vorstellig, erklären den Menschen, dass sie in ihren Gemeinden kreative Entwicklungsstätten vorfinden, wo sie sich mit anderen Menschen austauschen können – beruflich wie privat, es lassen sich ja auch immer mehr Familien abseits der Stadt nieder. Die Lebensqualität ist auf dem Land besser, die Preise sind niedriger. Letzteres ist generell ein Thema, denn die Kosten für Wohnen, Leben und Arbeiten steigen überall rasant an. Gut, dass bei den Betrieben ein Umdenken stattfindet und es unterschiedliche Arbeitsmodelle gibt, die Home Office, Satellitbüros usw. ermöglichen.

Wird das Land dadurch zur städtischen Region?
Eine gute Frage, schließlich werden durch die Menschen auch Lebensstile „exportiert“. Der Transfer funktioniert allerdings in beide Richtungen. Urbane und ländliche Lebensstile werden sich künftig also vermehrt vermischen: Die Stadt wird grüner, das Land kreativer. Eine interessante Osmose.

Klingt wirklich spannend. Inwiefern aber können die Bürger mitbestimmen, wie sich das Leben dort, wo sie leben, entwickelt – egal ob in der Stadt oder auf dem Land?
Es zeigt sich ein deutlicher Schub an partizipativen Kollaborationen und Formaten, in welchem Gefüge auch immer – sei es im beruflichen oder privaten Umfeld. Selbst bei den Kommunen findet hier ein Umdenken statt. Ein tolles Beispiel ist Barcelona, wo eine sehr starke partizipative Kultur gepflegt wird. Bei rund zwei Drittel aller Entscheidungen werden die Bürger aktiv einbezogen. Natürlich werden Pläne, Ideen usw. vorab von den Entscheidungsträgern entwickelt, dann aber in Bürgerforen hineingespielt, dort diskutiert und mittels Feedback-Schleifen wieder an die Kommunen zurückgeleitet.

Wow. Das wusste ich nicht. Und die Menschen nehmen an diesen partizipativen Prozessen tatsächlich teil? Oder anders gefragt: Ist den Menschen klar, dass sie auch Verantwortung übernehmen müssen – gerade im Hinblick auf das Gemeinwohl?
In Barcelona wird das sehr gut angenommen. In Skandinavien ist es ohnehin selbstverständlich, dass das soziale Gefüge und damit das Verantwortungsgefühl über die eigene Familie hinausgeht. Je weiter südlich man schaut, umso mehr steht die Familie im Mittelpunkt. Der Staat hingegen ist schlecht. Er nimmt mir etwas weg. Daher ist es auch legitim, ihn zu hintergehen.

Und wir liegen irgendwo dazwischen.
Ja, wobei sich eine gewisse „Skandinavisierung“ hinsichtlich der Verantwortung für das Gemeinwohl abzeichnet. Allerdings gilt nach wie vor: Je direkter das eigene Leben betroffen ist, umso größer das Engagement. Mein Dorf, meine Stadt, meine Region sind mir näher als der Staat. Wir sind oft viel zu weit weg von den anderen. Daher ist es entscheidend, dass zunehmen Interaktion stattfinden kann. Wir sind soziale Wesen, leben in Netzwerken, bei denen Knotenpunkte festgelegt werden müssen.

Dass sich das eigene Tun auf das Leben des anderen auswirkt, wurde in der Pandemie bestätigt. In dem Zusammenhang sprichst Du davon, dass Nähe und Distanz stetig neu vermessen werden und es kein Wunder sei, dass sogenannte Mikro-Formaten einen Boom erleben. Wie ist das gemeint?
Eine digitale Gesellschaft zeichnet sich durch dezentrales Leben aus. Zugleich brauchen wir Interaktion und Vernetzung, die unter anderem eben bei bzw. durch Micro Hubs stattfinden. Das können virtuelle neuronale Netzwerke sein genauso wie Mikro-Abenteuer, die man mit Freunden oder Familie erlebt. Für Firmen bedeutet das beispielsweise, dass sich alteingesessene Strukturen auflösen dürfen und die interne Organisation gezielter agiert. Im Übrigen ist erwiesen, dass der Mensch nur mit einer begrenzten Anzahl von Menschen soziale Beziehungen unterhalten kann – im Schnitt sind das 150 Personen, die sogenannte „Dunbar-Zahl“.

Sinnvolle Vernetzung bedeutet also lieber weniger, dafür aber wertvolle Kontakte.
Korrekt. Und viele international tätige Unternehmen orientieren sich bereits an der Dunbar-Zahl. Doch in welchem Bereich auch immer: Intelligente Vernetzung wird künftig entscheidend sein, weniger der Ort selbst. Dazu braucht es allerdings ein neues Mind-Set.

Gutes Stichwort. In Städten findet das Leben ja vermehrt im öffentlichen Raum statt. Nimmt nun die Verstädterung zu, ist in der Hinsicht wohl auch ein breites Umdenken nötig.
Jein, denn Leben im öffentlichen Raum hängt nur zum Teil mit der Verstädterung zusammen. Genauso spielt etwa die zunehmende Digitalisierung eine Rolle: Je digitaler die Welt, desto wichtiger werden Begegnungsorte, wo Vernetzung möglich ist, konsumfreie Zonen, Knotenpunkte – Hubs eben. Dort können Reflexion, Irritation und Provokation stattfinden, sodass die Menschen ihre Perspektiven erweitern und aus ihrer Bubble rauskommen können. Wichtige Hubs der Zukunft sind meiner Meinung nach übrigens Bibliotheken. Im städtischen Raum sind die Strukturen schon gut vorhanden. Auf dem Land ist das noch nicht der Fall, weil bislang kein Bedarf war. Es gab und gibt zwar das Gasthaus oder das Vereinsleben. Mit der „Landflucht“ wird es jedoch zu Veränderungen kommen. Unter anderem wird die Kombination von Wohn-, Arbeits- und Lebensraum genauso wichtig wie in der Stadt. Dafür braucht es aber eine entsprechende Infrastruktur und dafür wiederum weitsichtige Bürgermeister, die das vorantreiben. Die Attraktivität einer Region hängt sehr vom politischen Willen ab. Wobei auch die Bewohner einiges selbst initiieren und bewirken können.

Womit wir wieder bei der Verantwortung wären. Was braucht es, damit die Menschen in der Hinsicht ins Tun kommen?
Sie müssen darüber aufgeklärt werden, warum es wichtig und sinnvoll ist, sich einzubringen. Das kann anfangs im unmittelbaren Umfeld passieren, sodass sie sehen: Es macht einen Unterschied, wenn ich mich engagiere. Große Entscheidungen werden auch in Zukunft von der Politik getroffen. Dennoch ist es wichtig, dass die Bürger aktiv teilnehmen können – wie man am Beispiel Barcelona sieht. Dazu aber sind Information und Vernetzung nötig, ein offener und vor allem wertfreier Diskurs, ineinandergreifende Prozesse und Feedbackschleifen, die es den Menschen ermöglichen, ihre Ideen und auch Bedenken mitzuteilen. Und wenn sie dann tatsächlich gehört werden, werden die Menschen immer öfter ihre Verantwortung wahrnehmen.

Vielen Dank für das Gespräch, Andreas!

 

(c) Oliver Wolf

 

Zur Person: Andreas Reiter

Der gebürtige Tiroler beschäftigt sich schon seit über drei Jahrzehnten mit der Zukunft. 1996 gründete er das ZTB Zukunftsbüro in Wien und berät seither Unternehmen, Kommunen, Destinationen und öffentliche Institutionen bei strategischen Zukunftsfragen, Positionierung und kundenzentrierter Produktentwicklung. Andreas Reiter ist außerdem Keynote-Speaker und gefragter Referent bei internationalen Kongressen und Tagungen. Als Lehrbeauftragter für Trend-Management gibt er sein Wissen überdies an der Donau-Universität Krems und am MCI in seiner Heimatstadt Innsbruck weiter. Auf seinem Blog „Future Spirit“ macht er sich Gedanken über die Zukunft und gibt Inspirationen für den Wandel.

Link: www.ztb-zukunft.com

 

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Im Gespräch mit...,Verantwortung

Stadt, Land, Vernetzung: Der Mensch braucht Hubs

Landflucht und Verstädterung nehmen zu. Warum das kein Widerspruch ist, sondern zu grünen Städten und einem kreativen Land führt, weiß Zukunftsforscher Andreas Reiter. Außerdem sprechen wir darüber, was es mit der Skandinavisierung auf sich hat, weshalb wir Begegnungsorte im Mikro-Format benötigen und wie Menschen ihre Verantwortung für das Gemeinwohl wahrnehmen werden.