Die Luftfahrt befindet sich im Umbruch. Für Branche und deren Mitarbeiter ist das an sich nichts Neues bzw. Abnormales. Vielmehr werde einem bereits während der Ausbildung klar vermittelt: „Es braucht Durchhaltevermögen, da es im Airline-Business immer wieder Phasen des Stillstands gibt. Da muss man durchtauchen, denn der nächste Aufschwung kommt bestimmt. Zumindest war das bis vor Corona der Fall“, weiß Michael Marchetti, Pilot und zuletzt Kapitän von Businessjets, mit denen er Prominente, Politiker, Geschäftsleute und einmal sogar einen einzelnen Anzug rund um die Welt flog. Die Pandemie hat die Branche jedoch nachhaltig verändert: Massenkündigungen, die bis heute nachwirken und zu psychischen Belastungen, wenn nicht sogar Selbstmorden geführt haben. Beinharte Preiskämpfe durch die Billig-Airlines, die den Fluggästen zwar günstige Tickets bescheren, aber auch am Image der Fliegerei kratzen und dazu führen, dass das Personal chronisch unterbezahlt ist. „Die Menschen sind frustriert, weil sich die Bedingungen in den Keller entwickelt haben. Nicht nur die Ausbildung muss man sich selbst finanzieren, bei vielen Billiganbietern muss die Crew die Verpflegung selbst mitnehmen oder sich ihre Uniformen selbst kaufen. Piloten sind vielfach nicht mehr angestellt, sondern selbstständige Unternehmer, die sich ihre Brötchen hart verdienen müssen. Am Sager ‚Das teuerste Ticket hat immer der Co-Pilot‘ ist vor allem bei Billig-Airlines etwas Wahres dran“, konstatiert Michael.
What makes you feel alive?
Für den studierten Philosophen und ehemaligen Journalisten, der erst mit 30 Jahren seine Karriere als Pilot startete, war Corona ebenfalls ein Wendepunkt – oder wie er sagt: „Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“ Schon zuvor hat der Vater von zwei erwachsenen Töchtern seinen Job von Zeit zu Zeit kritisch hinterfragt. Die Leidenschaft für das Fliegen habe aber stets überwogen – bis zu jenem Abend Anfang April 2020, als er zwei, drei Wochen nach Beginn des ersten Lockdowns in seinem Garten ein Lagerfeuer machte, in den Sternenhimmel blickte und ebendort eine endlos scheinende Kette von Space X-Satelliten sah: „Da ist mir der Mund offengeblieben, da mir bewusst wurde: Das ist erst der Anfang. Elon Musk möchte ja 30.000 derartige Satelliten ins All schießen; 1.800 hat er schon oben. Das ist völlig irre und ich habe mich gefragt: Ist das wirklich unsere Zukunft? Ist das gut und richtig, was wir hier tun – in meinem Fall Menschen in Privatjets herumzufliegen? In dem Moment war mir klar: Das ist meine Chance, die Dinge anders zu machen.“
Drei Monate später hat Michael gekündigt, ohne zu wissen, was er künftig machen wird. Erst ein weiteres halbes Jahr später hatte er nach einem Telefonat mit Transformationsforscher Jens Hollmann eine Idee davon, wohin die Reise gehen könnte: „Ich habe schon mehrmals im Leben neu angefangen und Dinge losgelassen, um zu schauen, was kommt und wo es mich hinzieht. Diese Suche nach dem ‚what makes you come alive‘ gepaart mit einem Grundvertrauen hat mich jedes Mal noch näher zu mir selbst gebracht.“
Und genau das wollte Michael Marchetti weitergeben. So wurde aus der theoretischen Idee einer Art „AMS für Piloten“ schlussendlich OneEightZero: ein Transformationsprogramm für Piloten, Flight Attendants, aber auch Airlines. „Die Flugbranche ist so unberechenbar wie nie zuvor. Umso wichtiger ist es, den Sinn im Leben zu finden und sich – wie etwa dem japanischen Ikigai-Modell entsprechend – zu fragen: Was liebe ich? Worin bin ich gut? Wofür werde ich bezahlt? Und last but not least: Was braucht die Welt? ‚Return to yourself‘ sozusagen. In der Fliegerei sprechen wir bei einer Umkehrkurve von einem one eight zero-turn. Und genau das ist es, was wir hier machen: Eine 180 Grad-Wende, bei der man den Blick auf sein Inneres richtet und dann Schritt für Schritt seine persönliche Zukunft findet und gestaltet“, so Michael.
OneEightZero: Ready to take off
Seit Mitte März 2022 ist OneEightZero am Start. Sieben Wochen lang durchlaufen die Teilnehmer spielerisch eine virtuelle Weltreise zu sich selbst. Im Rahmen von Videobeiträgen, Podcasts, Potenzialanalysen, Tasks, Tests, Zoom Calls und Coachings geben internationale Experten ihr Wissen zu Zukunftsthemen, Storytelling, Selbstführung und Leadership, Mindset und anderes mehr preis. „Am Ende weiß man, wer man ist, wo man steht und wohin man möchte. Dabei muss nicht jeder seinen Job als Pilot oder Flight Attendant aufgeben“, betont Michael. „Vielmehr geht es darum, Möglichkeiten aufzuzeigen. Manche brauchen einfach nur einen Plan B, der ihnen längerfristig als Option dienen und somit Sicherheit geben oder in Kombination mit der Fliegerei angegangen werden kann.“ Fliegen ist freilich für viele ein Traumberuf, von dem man schon als kleines Kind geträumt hat. Und das macht es auch so schwer, weiß der 49-Jährige:
„Manche glauben, nur in diesem Beruf glücklich zu werden – schließlich haben sie sich ihren Traum erfüllt. Für viele bricht also eine Welt zusammen, wenn sie nicht mehr fliegen können. Es ist fast so, als würde die Daseinsberechtigung abhandenkommen. Bei OneEightZero lernen die Teilnehmer, dass es auch andere Dinge gibt, die sie gerne und gut machen und worin sie Erfüllung finden können.“
Reise-Experiment
OneEightZero ist wie ein Experimentierraum – oder besser gesagt eine experimentelle Reise, die es einem ermöglicht, nach der Rückkehr rasch zu reagieren, wenn sich wieder etwas ändert. Und das ist wichtiger denn je, schließlich wird uns Corona mit all seinen Auswirkungen noch (etwas) länger erhalten bleiben. Der Krieg in der Ukraine, die Klimakrise und zahlreiche andere globale Entwicklungen machen zudem deutlich, dass sich die Welt verändert – und zwar rasanter als viele von uns denken.
Dass sich nicht nur die Welt, sondern eben auch die Flugbranche im Wandel befindet, wurde schon eingangs erwähnt. Stellt sich die Frage: Wie schaut dieser aus? Und vor allem: Wie nachhaltig und umweltfreundlich ist er? Laut Michael Marchetti ist man sich bei den Airlines durchaus darüber im Klaren, dass es so wie bisher nicht mehr weitergehen kann: „Auf Managementebene werden Überlegungen hinsichtlich Umstrukturierungen angestellt. Das Problem aber ist, dass die Flotten meist aus veralteten Flugzeugen bestehen, die wesentlich mehr Sprit verbrauchen als neue Maschinen. Am Ende des Tages sind die Alltagsprobleme allerdings meist größer und die finanziellen Mittel reichen nicht aus, um auf Maschinen umzurüsten, die umwelttechnisch besser abschneiden.“
Letzteres wäre freilich wichtig, ist doch Fliegen klimatechnisch ein großes Problem. Eine Thematik, über die sich das Flugpersonal zwar Gedanken mache, die viele jedoch verdrängen oder Gegenargumente finden. Für Michael verständlich: „Wer sich mit dieser Problematik genauer beschäftigt, stellt ja gleichzeitig sein eigenes Tun in Frage.“
Ein besonderes Zukunftsbild
Er selbst hat das getan und nicht nur den Job gekündigt, sondern sich außerdem Gedanken über ein nachhaltiges Zukunftsbild für die Luftfahrt gemacht. Geht es nach dem OneEightZero-Gründer müssen Flugreisen wieder zu Luxusgütern werden – so wie sie es bis in die 1990er-Jahre der Fall war. Dieses Rückbesinnen brauche es sowohl bei den Airlines, als auch vonseiten der Passagiere: „Ich möchte die Fliegerei gar nicht verbieten, denn sie bringt Menschen und Kontinente zusammen. Doch sie muss nachhaltig und zukunftsfähig werden. Einerseits durch neue, grünere Flieger. Andererseits aber vor allem durch eine Abkehr vom Billig-Image. Außerdem bräuchte es eine Reduktion der Masse. Die Menschen sollten sich überlegen, wann und wohin sie fliegen. Man sollte länger an dem Ort bzw. in der Region bleiben, Land und Leute kennenlernen, vielleicht sogar dort arbeiten. Fliegen muss wieder etwas Spezielles, etwas Besonderes werden, sodass die Menschen bereit sind, einen angemessenen Preis dafür zu bezahlen. Und dann wird es auch den Crews wieder besser gehen.“
Michael Marchetti hat vor über zwei Jahren eine Reise angetreten, mit der er nicht nur sein eigenes Leben einmal mehr komplett gedreht hat, sondern auch dazu beitragen wird, dass viele seiner ehemaligen Kollegen einen Transformationsprozess zu sich selbst durchlaufen können. Er allein wird die Welt der Fliegerei nicht verändern. Doch mit OneEightZero zeigen er und sein Team auf, was möglich ist.
Zur Person: Michael Marchetti
… Michael Marchetti wurde 1973 in Österreich geboren, studierte Geschichte, Philosophie und Literatur in Wien und Santiago de Chile, war in den 1990er-Jahre als Journalist für internationale Zeitungen, Radio- und Fernsehsender tätig und jobbte rund um die Jahrtausendwende zwei Jahre als Tauchlehrer in Mexiko und Kenia. Im Alter von 30 Jahren begann er eine neue Karriere als Pilot und wurde Kapitän von Businessjets, mit denen er Prominente, Politiker und Geschäftsleute flog. Michael ist mit der ehemaligen Nachrichtenmoderatorin und Psychotherapeutin Tiba Marchetti verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Töchtern und Naturliebhaber.
www.oneeightzero.org
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OneEightZero: Zeit für eine Wende
Michael Marchetti hat seinen Pilotenjob an den Nagel gehängt – nicht nur um selbst eine 180-Grad-Wende zu vollziehen, sondern auch um mit OneEightZero° ehemalige Kollegen bei einer möglichen Transformation zu unterstützen. Ein Zukunftsbild für die Flugbranche hat er ebenfalls mit im Gepäck.