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Zukunftsgesellschaft

Wir sind bei Zukunft Neu Denken immer per Du. Da ihre Zeit eng bemessen ist, haben wir im Vorfeld noch nicht gesprochen, daher fange ich das Gespräch mit der Frage an: Darf ich dem Oberbürgermeister von Wuppertal das Du anbieten?
Ja klar.

Schön, dann legen wir los: Es tut sich viel in der mit rund 365.000 Einwohnern größten Stadt des Bergischen Landes. Eben erst haben sich die Wuppertaler dafür entschieden, dass sich die Stadt für die Bundesgartenschau, kurz BUGA 2031 bewirbt. Abgesehen davon, dass der Entscheid ein Erfolg für sich war: Was bedeutet das für die Zukunft der Stadt?
Es war wirklich eine Freude mitzuerleben, wie sich ein breites Bündnis aus unterschiedlichsten Unterstützern dafür stark gemacht hat, dass das Anliegen der Bürgerinitiative „BUGA – so nicht“ abgelehnt wurde. Auch weil die BUGA keine Blümchenschau ist, bei der wir ein halbes Jahr schöne Veranstaltungen inszenieren. Vielmehr stehen dahinter viele Ideen, die wie ein Kompass für die Stadt selbst dienen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die BUGA 2031 soll die erste ohne zusätzliche Parkplätze werden. Sprich: Die Besucher werden hauptsächlich über den öffentlichen Nahverkehr anreisen oder das Radwegenetz nutzen, das bislang aber noch unzureichend ausgebaut ist. Entsprechend gilt es, bis 2031 eine Fahrradkultur zu etablieren und/oder die Menschen dazu zu bringen, vermehrt auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Die BUGA bietet die Chance, die Stadt in Richtung Nachhaltigkeit, neue Mobilität, Kreislaufwirtschaft und auch Bürgerbeteiligungen zu entwickeln.

Die Bürgerinitiative gegen die BUGA hat euch also nicht „abgeschreckt“, die Bürger noch mehr einzubinden?
Ganz und gar nicht. Der Entscheid für die BUGA wurde uns zwar in gewisser Weise aufgezwungen. Im Nachhinein sind wir aber sogar dankbar dafür, denn dadurch ist eine tolle Aufklärungskampagne entstanden. Zudem muss gesagt werden, dass solche Bürgerentscheide im Normalfall negativ ausgehen. Dass das in Wuppertal nicht der Fall war und sich die Menschen für die BUGA entschieden haben, ist schon ein Ausrufezeichen – auch wenn es mit 51,8 Prozent ein recht knappes war. Nichtsdestotrotz konnten wir die Mehrheit überzeugen, dass es Sinn macht, auf so ein Zukunftsprojekt zu setzen.

Und es ist wirklich ein Zukunftsprojekt, schließlich findet die BUGA erst in neun Jahren statt. Ein Zeitraum, der für viele gar nicht „greifbar“ ist.
Natürlich sind neun Jahre eine lange Zeit und für manche Bereiche mag das auch zutreffen. Doch bei Verkehrsprojekten beispielsweise sind neun Jahre gar nichts. Hier müssen wir schleunigst die Weichen stellen, um Ressourcen und Kapazitäten entsprechend vorzusehen. Auch in der Verwaltung stehen unendlich viele Dinge an. Das Gute ist, dass wir mit der BUGA ein festes Datum haben. Was in einer Stadt zu tun ist, welche Dinge angegangen werden müssen, ist meist klar. Jedoch verschieben sich Projekte immer wieder, weil sie schlichtweg vom Alltag überrollt werden. Wir aber wissen jetzt, dass 2031 zwei Millionen Menschen nach Wuppertal kommen werden. Und wir müssen heute entscheiden, was dafür zu tun ist. Umso besser, dass seit dem Entscheid für die BUGA eine ganz andere, eine positive Grundspannung herrscht.

Du bist seit November 2020 Oberbürgermeister von Wuppertal. Mit dem Zukunftsprogramm #Fokus_Wuppertal war von Beginn an klar, dass Du etwas bewegen möchtest. Warum dieser Fokus auf die Zukunft und was steckt dahinter?
Für mich war klar, dass ich alles daransetzen werde, die Ansagen, die ich im Wahlkampf gemacht habe, auch umzusetzen und mich dabei nicht von den Anforderungen des täglichen Handels überrollen zu lassen – lokale Politik ist im Normalmodus nämlich oft sehr reaktiv. Daher haben wir am Anfang der Amtsperiode acht Bereiche – darunter Themenfelder wie Klimaneutralität, eine innovative und nachhaltige Mobilitätsstrategie oder die Vernetzung der Bildungs- und Forschungsinfrastruktur – in ein Zukunftsprogramm mit klaren Zielvorstellungen übersetzt. Dieses dient nun als Kompass und bietet den Menschen Orientierung – und zwar den Bürgern genauso wie der Verwaltung. Außerdem haben wir uns verpflichtet, jedes Jahr Rechenschaft darüber abzulegen, wo wir welche Schritte gesetzt haben, wo wir weitergekommen sind und was nicht geklappt hat. So merken die Menschen, dass sich etwas verändert und vieles nicht so schlecht läuft, wie es manchmal angesichts alltäglicher Probleme scheint.

Die Menschen haben sich irgendwie angewöhnt, das Negative in den Fokus zu stellen.
Das stimmt leider. Meiner Meinung nach hat das viel mit einer weitentwickelten Wohlstandsgesellschaft zu tun, in der wir leben. Man hat das Gefühl, dass viele Menschen nach vorne hin nichts zu gewinnen haben, sondern immer nur darauf achten, was sie alles verlieren können.

Du warst viele Jahre im universitären und damit eher im wissenschaftlich-theoretischen Bereich tätig. Als Oberbürgermeister gibt es wohl nur mehr Praxis. Wie geht man damit um?
Auch als Wissenschaftler habe ich ja schon sehr praxis- und politiknah gearbeitet. Nun aber stehe ich permanent im Rampenlicht und bin zudem emotionale Projektionsfläche für viele Menschen. Gerade in der Anfangsphase war das durchaus eine Herausforderung, für die ich auch Coping-Strategien entwickeln musste. Vom Kopf her weiß man das, aber wenn man dann tatsächlich damit konfrontiert wird, ist das etwas ganz anderes. Es ist auch eine totale Konfrontation mit sich selbst. Die Bürger kennen dich schlussendlich besser als du dich selbst.

…zumindest glauben sie das.
Na ja, das Reagieren auf Fremdbeobachtungen hat ja auch mit dem Bedürfnis zu tun, gemocht zu werden. Bei Angriffen, die in diesem Job mitunter in voller Brutalität auf einen zukommen, stellt man sich natürlich oft die Frage: Warum trifft mich dieser Kommentar, diese Attacke so sehr? Im Vergleich zu anderen Jobs kann man sich als Oberbürgermeister einer ständigen und umfassenden Beobachtung und Bewertung nicht entziehen. Also muss man sich intensiv mit sich selbst auseinandersetzen.
Ein wichtiger Stabilisationsfaktor für mich ist, mir immer wieder klarzumachen, dass es eine selbstgewählte Reise ist, an der man kontinuierlich wachsen muss, um sie erfolgreich auszufüllen. Hilfreich ist dabei übrigens das Bild des Energiefasses: Wo und wie kommt Energie oben hinein? Und wo sind Lecks und wie kann man das diese schließen? Eine sehr kraftvolle Vorstellung. Der Respekt vor all denen, die so einen Job über viele Jahre machen, ist jedenfalls unendlich gestiegen.

Du beschäftigst dich schon lange damit, wie sich Gesellschaften verändern, und hast 2018 das Buch „Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels“ veröffentlicht. Was braucht es denn, damit eine Gesellschaft zukunftsfähig wird?
Die Grundbotschaft des Buches ist die Zukunftskunst und, dass ein Veränderungsprozess nur dann funktionieren kann, wenn er mit Kreativität und positiver Energie angegangen wird. Außerdem braucht es immer eine kritische Masse an Menschen, die diese Veränderung in sich tragen und dadurch eine Dynamik auslösen. Städte sind in der Hinsicht ein spannendes Feld, weil sie oft reich an avantgardistischen Strömungen und Transformation sind. Allerdings kann sich positive Energie nur verbreiten, wenn das Kreative, das Lustvolle überwiegt. Nur so entstehen Räume, die andere mitnehmen können. Im Bereich der Forschung und Entwicklung, aber auch im Unternehmerischen etwa haben wir das oft; im Politisch-Institutionellen nur sehr selten bis gar nicht.

Das versuchst Du nun ja zu ändern.
Das Wissen aus dem Buch ist für mich wie ein Kompass. Gleichzeitig merke ich, wie herausfordernd es in der Praxis tatsächlich ist. Die Kraft bestehender Routinen kann derartige Möglichkeitsräume abtöten – ebenso wie negative Energien. Da gilt es, Tag für Tag dagegen anzukämpfen und Inseln guter Zukunftsenergien zu schaffen. In Wuppertal funktioniert das über ein fantastisches Netz an zukunftsaffinen Mitwirkenden. Hier haben wir die kritische Masse, die auch immer wieder mein Energiefass füllt. Ob es sich aber tatsächlich bestätigt, dass man allein mir Kreativität und positiver Energie alles bewegen kann, wird sich erst zeigen. Das Experiment läuft also noch.

Stoff für das nächste Buch?
Warum nicht? Denn selbst wenn es am Ende, aus welchen Gründen auch immer, scheitern sollte, wäre es sinnvoll ein Buch darüber schreiben, damit andere daraus etwas lernen können.

Stimmt, obwohl wir vom Scheitern nicht ausgehen. Vielmehr sind wir gespannt, was sich in Wuppertal in kommenden Jahren tut. Danke, dass du dir die Zeit für dieses inspirierende Gespräch genommen hast, Uwe.

 

 

Zur Person: Uwe Schneidewind

…ist seit November 2020 Oberbürgermeister der bergischen Großstadt Wuppertal (Nordrhein-Westfalen). Zuvor war der Wissenschaftler und Autor, der überdies zu den 100 einflussreichsten Ökonomen Deutschlands gezählt wird, unter anderem Dekan und Präsident der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sowie zuletzt zehn Jahre Präsident des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt, Energie.

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Im Gespräch mit...,Transformation

Blumen für Wuppertal: Eine Stadt macht Zukunft

Oberbürgermeister Uwe Schneidewind erklärt, warum die BUGA 2031 für Wuppertal ein Zukunftsprojekt ist und keine Blümchenschau. Außerdem sprechen wir darüber, wie der politische Quereinsteiger seinen Job angeht und was eine Gesellschaft zukunftsfähig macht.

Gastkommentare sind Beiträge, die nicht aus der Redaktion von Zukunft Neu Denken entspringen.

 

Klimawandel, Pandemien, Kriege, Versorgungsengpässe, weltweiter Transportwahnsinn, explodierende Armut, neue Arten von Fanatismus, Krisen und Katastrophen belasten zunehmend unser aller Leben. Weltweit fällt es den Menschen immer schwerer, Entwicklungen einzuschätzen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Was ist denn überhaupt richtig, was ist falsch und wer trägt heute überhaupt noch eine Verantwortung oder wird zu dieser gezogen?
Die Verantwortung für die richtigen Entscheidungen hat grundsätzlich jeder selbst zu tragen. Aber zur Verantwortung gezogen wird heute kaum mehr jemand (Ausnahme: Straftaten). Stattdessen ist es Standard geworden, dass wir die Belastungen der ausgelösten Schäden einfach auf alle – ausgenommen die „Oberen Alle“ – aufteilen und in Unwohl verweilen.
Denken wir zum Beispiel an das Thema Konsum. Jeder Erwerb eines Lebensmittels oder eines Gebrauchsgutes ist ein Produktionsauftrag. Mit unserer individuellen Produktentscheidung tragen wir Verantwortung für die dahinterliegenden Prozesse und deren Folgen für die Gesellschaft, für die Fauna und die Flora. Heutzutage weiß ein Großteil der Menschen, dass unser Konsumverhalten die Gesellschaften und den Planeten massiv demoliert. Trotzdem mäandern wir Humanoiden wie Lemminge durch übervolle Supermärkte und erteilen folgenschwere Produktionsaufträge in alle Welt. Ich denke, dass wir mit unserem Wirtschaftssystem so nicht weiterkommen. Damit komme ich zur Verantwortung der Politiker. Da gibt es allerdings auch kein Entkommen, denn: Politik sind ja wieder wir alle. Das schmerzt und deshalb blenden wir das lieber aus und maulen naiv nach oben.

Es ist höchste Zeit…

Es ist höchste Zeit für mutige Aus-Brüche aus den alten Schienen von Wirtschaft und Politik.
Es ist höchste Zeit, weltweit ein echtes ökosoziales Wirtschaftssystem anzustreben.
Es ist höchste Zeit die Menschlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen, anstatt immer nur davon zu reden, dass der Mensch im Mittelpunkt stehe. Von was denn eigentlich? Etwa im Mittelpunkt der globalen Ausbeutung?
Es ist höchste Zeit für uns alle, selbst mehr Eigenverantwortung zu übernehmen, anstatt nur über die Politiker (und andere vermeintlich Verantwortliche) zu schimpfen, denn, wie bereits erwähnt, kommen wir aus dieser Nummer nicht raus. Keiner von uns.
Es ist höchste Zeit für uns alle, die eigene Leistungsbereitschaft zu erhöhen, statt diese frustriert zurückzufahren und selbstgerecht einem dumpfen Anspruchsdenken zu huldigen. Die dümmsten Aussagen sind der unreflektierte Ruf: „Das steht mir zu.“ Oder das vertrottelte: „Geiz ist geil“.
Es ist höchste Zeit für uns alle, nicht mehr eine umfassende Versorgung mit Jobs, Nahrungsmitteln, Benzin, Sozialbetreuung und Medizin durch den Staat einzufordern, und gleichzeitig hemmungslos unser Sozialsystem mittels Scheinkrankenstände und Kuren-Tourismus – um nur zwei Beispiele zu nennen – zu plündern.
Es ist höchste Zeit, dass Politik und Wirtschaft eine gesellschaftstaugliche soziale Balance forcieren. Sie müssen dem Auseinanderdriften von wenigen Reichen und immer mehr Armen mutig entgegentreten, denn sonst sind mittelfristig blutige Auseinandersetzungen unausweichlich von Gelbwesten über Radikalisierungen aller Art bis zu Kriminalität.

Wagen wir es, Verantwortung zu übernehmen

Es ist höchste Zeit, dass wir wieder an das berühmte „halbvolle Glas“ denken und dementsprechend handeln. Damit das möglich wird, müssen wir unser Denken schützen und die Flut an Bad News und Fake News dorthin umleiten, wohin sie gehört: in den medialen Müllhaufen. Zudem gilt es, in eine bessere Bildung auszubrechen und Wissen zu vermitteln, anstatt nur Informationen zu streuen.
Es ist höchste Zeit, langfristiger nachzudenken, weil es nicht ausreicht, in den vorhandenen Gleisen neu aufzubrechen. Wir müssen gemeinsam und so richtig ausbrechen. Deshalb müssen die Politiker mit ihrem desaströsen und kurzsichtigen „Von Wahl zu Wahl“-Denken aufhören.
Im Gegenzug sollten die Wähler ihre Stimme jenen Politikern geben, die mittel- sowie langfristig denken und auch so handeln. Wiederum liegt die Verantwortung auf beiden Seiten.

Es ist höchste Zeit, im Interesse der Jugend an eine gute Zukunft zu glauben und daran zu arbeiten. Das bedeutet, Ausbrüche aus alten politischen Mechanismen und Wirtschaftsdogmen zu wagen.
Der geldgetriebene Zentralismus der globalen Konzerne ist final betrachtet in keiner Weise humaner als der politische Zentralismus sozialistischer Systeme. Globalisierung gefährdet Regionen. Wirtschaftskolonialismus vernichtet Völker – und das im Jahre 2022!
Es ist höchste Zeit für einen Ausbruch zu mehr Gerechtigkeit, für Subsidiarität und Föderalismus. Und es ist höchste Zeit, ein Wagnis einzugehen und Verantwortung zu übernehmen!

 

Über den Autor…

Dr. Matthias Ammann ist Unternehmensberater mit Fokus auf Verbandsmanagement und zeichnet im Rahmen von temporären Managementfunktionen bei mehreren Verbänden verantwortlich, (etwa im Bereich Holzbau). Das Hauptanliegen des begeisterten Netzwerkers ist eine robuste Regionalität – nicht zuletzt aus diesem Grund bemüht er sich unter anderem auch zusammen mit Gastronomen und Landwirten um eine verbesserte Kooperation im Hinblick auf lokale Nahrungsmittel.

www.matthias-ammann.eu

 

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Gastkommentar,Verantwortung

Höchste Zeit für Mut und Verantwortung

Matthias Ammann nimmt kein Blatt vor den Mund. Und das ist gut so, denn es ist höchste Zeit – für uns alle. Warum wir endlich Mut beweisen, ein Wagnis eingehen und Verantwortung übernehmen müssen.

Gastkommentare sind Beiträge, die nicht aus der Redaktion von Zukunft Neu Denken entspringen.

 

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Wer kennt diese Redewendung nicht? Sie impliziert ein Menschenbild und damit zwischenmenschliche Verbindungen, die Vertrauen nur soweit zulassen, wie es auch kontrollierbar ist. Dieses Denken und Handeln stammt aus klassisch hierarchischen Beziehungsmustern: Eine Person höherer Ebene trägt vermeintlich die Verantwortung für das Handeln bzw. die Erzeugnisse einer unteren Ebene, hält entsprechend Kontrollinstanz und überprüft – zum Teil mit Argusaugen – die Ergebnisse, bevor diese wiederum eine weitere Hierarchieebene nach oben kommuniziert werden. Unkontrolliert handeln wird zum no go. Da darf man sich durchaus fragen: Ist diese Kontrollebene überhaupt nötig – insbesondere, wenn Vertrauen in Mitarbeiter sowie Kollegen besteht und somit eine Art kollektive Kontrolle ohnehin vorhanden wäre?

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser – sollte wohl künftig die Redewendung lauten. Vertrauen ist ein wichtiger Bestandteil oder vielleicht sogar die Basis für ein gesundes Miteinander. Im Rückblick auf die vergangenen beiden Jahre und im Hinblick auf die aktuelle Situation in der Ukraine erscheint uns die Welt immer unsicherer und zerbrechlicher. In so einer Welt ist es doch essenziell, dass wir darauf bauen können, Krisen gemeinsam zu meistern, uns in schweren Zeiten aufeinander zu verlassen und die kollektive Vision einer friedlichen, demokratischen, gemeinsamen Welt zu teilen.

Darauf vertrauen, dass alles gut wird, bedeutet aber nicht, dass das von allein bzw. ohne unser Zutun passiert. Vertrauen bedeutet auch zu handeln, aktiv zu werden, für seine Werte und die Vision der Zukunft, an die man glaub, einzustehen und diese selbst zu gestalten. Ich vertraue darauf, dass mein Handeln und mein Gestalten in der Gegenwart Auswirkungen auf die Zukunft haben. Ich vertraue darauf, dass, wenn wir alle ins Tun kommen, wir gemeinsam die Zukunft gestalten können. Und ich vertraue darauf, dass jeder – und zwar wirklich jeder ein Zukunftsgestalter ist.

Die Zukunft hängt davon ab, was wir heute tun…

…sagte schon Mahatma Gandhi. Und so schließt sich der Kreis letztlich wieder. Wer seinen Mitmenschen und/oder Mitarbeitern und Kollegen das Vertrauen entgegenbringt, dass ein jeder für die gemeinsame Zukunft nur das Beste will, impliziert damit ein positives Menschenbild. Dann werden strikte Hierarchien und vielzählige Kontrollmechanismen überflüssig. Dann teilen wir eine Vision und sind motiviert, dieses Ziel gemeinsam zu erreichen. Dann teilen wir Verantwortung und können unkontrolliert und gemeinsam mehr bewegen als allein auf weiter „Kontrollflur“. Dann denken wir „wir“ und nicht „ich“. Dann brauchen wir keine Kontrolle, sondern können ganz einfach unkontrolliert handeln. Und das ist dann eine Vision der Zukunft, die nur positiv stimmen kann.

 

Über die Autorin…

Janina Clever leitet als Industrie Designerin bei Generationdesign in Wuppertal komplexe Design- und Strategieprojekte. Die studierte Arbeits- und Organisationspsychologin setzt auf nachhaltigen Mehrwert und Nutzen, der durch agile und interdisziplinäre Austauschformate und Arbeitsmethoden entsteht. Dabei sieht sie in der Fusion von digitalen und realen Formaten für die Zukunft noch unentdeckte Potenziale. Janina Clever ist außerdem Teil des Zukunftsrates von Zukunft Neu Denken.

 

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Gastkommentar,Vertrauen

Unkontrolliert vertrauen: Niemand braucht control freaks

Vertrauen ist unkontrollierbar, ist Janina Clever überzeugt. Warum und wieso wir unkontrolliert handeln müssen, um die Zukunft gemeinsam zu gestalten.

Unser Leben verändert sich immer schneller. Als Kultur- und Sozialanthropologin beschäftigst Du Dich mit dem Wesen des Menschen. Warum tun sich die meisten schwer, mit derart schnellen Veränderungen umzugehen?
Schnelllebige Veränderung ist nichts Natürliches, sondern etwas Kulturelles bzw. kulturell Gewachsenes. Allerdings fällt es uns schwer, schnelle Veränderungen kognitiv zu verarbeiten. Dafür sind wir nicht gemacht – weder das Individuum noch die Gesellschaft bzw. unsere Kultur. Evolutionär betrachtet, also im Leben unserer steinzeitlichen Vorfahren, gab es auf lange Sicht keine derartig schnellen Veränderungen. Sie sind uns also nicht inhärent. Das könnte ein Grund sein.
Man muss aber auch wissen, dass wir uns kulturell immer an die Dinge anpassen, die uns passieren. Also etwa auch Veränderungen, die uns infrastrukturell vorgegeben werden. In der Folge beeinflusst sich das gegenseitig – wie ein Feedback-Loop. Und so passen sich auch unsere Werte und Normen wieder an. Im Hinblick auf Letzteres hinken wird derzeit aber hinterher.

Wenn sich unsere Welt einerseits immer schneller verändert und wir andererseits in gewissen Bereichen hinterherhinken, besteht da nicht die Gefahr, dass wir in Zukunft vom Leben ständig überholt werden? Sprich: Wenn wir unsere Pläne über den Haufen werfen müssen, noch bevor sie umgesetzt werden konnten, macht es da überhaupt noch Sinn, Pläne für die Zukunft zu schmieden?
Dass Zukunft bei uns einen derart hohen Stellenwert hat bzw. dass wir überhaupt in Zukunft denken, ist Teil unserer Gesellschaft und ebenfalls kulturell gewachsen. In Jäger-Sammler-Gesellschaften, auf die ich mich spezialisiert habe, gibt es Zukunft in der Form gar nicht. Sie können es sprachlich bzw. grammatikalisch nicht ausdrücken. Zukunft hat für Jäger und Sammler keine kulturelle Wertigkeit, denn man lebt im Hier und Jetzt. Das ist unter anderem möglich, weil diese Gesellschaften viel kleiner und simpler sind. Letzteres ist nicht wertend gemeint, sondern bedeutet, dass sie etwa im Vergleich zu der Gesellschaft, in der wir beide aufgewachsen sind, wesentlich weniger komplex aufgebaut sind. Je komplexer eine Gesellschaft, umso komplexer sind die Themen, die behandelt werden müssen.

Kalahari-Wüste in Namibia (c) Louis Liebenberg

 

Wir wissen nicht, was morgen ist. Das ist an sich nichts Neues, schließlich konnten wir nie vorhersagen, was die Zukunft tatsächlich bringt. Die Corona-Pandemie hat uns in der Hinsicht allerdings regelrecht vorgeführt und ist in gewisser Weise wie eine perfekte Spielwiese für diese sich derart schnell verändernde Welt. Woran können sich die Menschen dennoch orientieren?
Wie wäre es mit Ergebnisoffenheit?

Du meinst, dass wir uns daran orientieren sollen, dass alles möglich ist?
Ja. Wobei das auch nichts Neues ist. Wie Du gerade selbst gesagt hast, konnten wir die Zukunft noch nie punktgenau vorhersagen, aber vor Corona hatte man zumindest das Gefühl, dass man Dinge, Veränderungen usw. abschätzen konnte. Jetzt kann man gar nichts mehr abschätzen. Umso wichtiger ist es, dass wir lernen, damit umzugehen. Und hier würde uns Ergebnisoffenheit sehr helfen. Gesellschaftsstrukturell ist das übrigens etwas ganz anderes.

Warum? Kann eine Gesellschaft nicht ergebnisoffen agieren?
Sie kann schon, aber sie braucht dennoch gewisse Strukturen. Anders gesagt: Wir müssten darüber reden, welche Strukturen es braucht, damit wir das als Gesellschaft schaffen. Da liegt ein großes Stück Arbeit vor uns. Ich bin allerdings hoffnungsvoll, dass wir es schaffen, die Dinge neu zu kalibrieren. Welche Strukturen das sind, kann ich nicht sagen. Dafür müssten wir einen Diskurs führen.

Ein gutes Stichwort. Oft finden wir nämlich im Gespräch neue Wege und Orientierung. Ich habe jedoch das Gefühl, dass die Menschen immer seltener miteinander reden, dass man einander nicht mehr zuhört, dass man andere Meinungen nicht mehr zulässt. Haben wir die Diskursfähigkeit verloren?
Ich glaube eher, dass wir sie über eine lange Zeit gar nicht gebraucht haben. Das hängt stark mit Machtsystemen zusammen. In Hierarchien, die es übrigens in dieser Form in Jäger-Sammler-Gesellschaften nicht gibt, werden Dinge von „oben“ vorgegeben. Und die Menschen haben das ja auch mitgetragen, weshalb es über viele Jahre und Jahrzehnte funktioniert hat. Jetzt aber werden diese Strukturen zunehmend hinterfragt. Immer mehr Menschen – von Fridays for Future über people of color und andere Minderheiten bis hin zu all jenen, die gegen die Pandemie-Politik auf die Straße gehen – wollen mitreden, wollen gehört werden.

Auf der Straße gibt es allerdings weniger Diskurs…
Stimmt. Umso wichtiger ist es, dass wir wieder anfangen, miteinander zu reden. Dabei ist es in meinen Augen entscheidend, dass wir uns darüber im Klaren sind, dass unterschiedlichste Menschen mit unterschiedlichsten Meinungen miteinander reden.

Es braucht also eine Kombination aus Diskurs und Diversität – eine Kultur des diversen Diskurses sozusagen. Das könnte dem Einzelnen wohl auch Orientierung geben, da er aus unterschiedlichsten Meinungen und Anschauungen seinen eigenen Weg finden könnte.
Klingt gut. Abgesehen davon hat Orientierung für mich auch damit zu tun, womit wir uns identifizieren. Wobei einmal mehr wichtig ist zu akzeptieren, dass jeder Mensch unterschiedlich ist und sich somit mit anderen Werten identifierzt. Dafür braucht es eine Offenheit, die zwar auf den ersten Blick beängstigend ist, weil es nicht die eine universelle Identität gibt, an der man sich orientieren kann. Auf den zweiten Blick eröffnet einem das aber Welten. Sobald man erkennt, dass es wesentlich spannender ist, eine breite Perspektive ohne universelle Annahmen und Werte zu haben bzw. sich dieser anzunähern, kann man viel freier agieren.

 

Je weniger ich darüber nachdenke, was – scheinbar – vorgegeben ist, umso freier bin ich.
Ja. Die Arbeit mit Jäger-Sammler-Gesellschaften hat mir in der Hinsicht sehr geholfen. So haben diese beispielsweise keine Idee von Wettkampf. Es gibt weder Gewinner noch Verlierer. Auch kennen sie kein Besitztum. Wir hingegen identifizieren uns oft über Besitz, Geld, unsere berufliche Position usw. Derartige Werte sind in unseren Gesellschaften kulturell gewachsen. Und das wiederum bedeutet, dass ich mich nicht damit identifizieren muss, weil es uns nicht inhärent ist.
Was ist damit sagen möchte: Viele Dinge, die uns in unserer Welt als gegeben betrachtet werden, sind in Wahrheit kulturell gewachsen. Die Welt, wie wir sie kennen, ist nicht in Stein gemeißelt. Wir wurden, wenn man so möchte, zufällig hineinsozialisiert. Dieses Wissen hilft, die eigene Welt zu relativieren.

Ein schöner Gedanke. Der Einzelne kann seine Welt somit jederzeit neu ausrichten – ohne dabei durch scheinbar fixe Systeme eingeschränkt zu werden.
Ja, wobei sich auch Systeme und Gesellschaften ständig verändern, unter anderem weil sich deren kulturelle Werte und Regelungen verändern. Die Corona-Pandemie hat unser Leben von heute auf morgen ausgebremst und uns unter anderem aufgezeigt, dass wir zu schnell unterwegs waren. Zuvor war alles möglich und zwar oft ohne große Anstrengungen. Nun gilt es, sich darüber klar zu werden, welche Werte „nur“ kulturell gewachsen sind. Folglich liegt es auch in unserer Hand, Neues entstehen zu lassen. Dafür aber muss sich erst einmal das Mindset ändern …

… Zukunft neu denken, sozusagen.
Genau. In den letzten zwei Jahren ist irrsinnig viel ins Wanken gekommen. Jetzt brauchen wir Raum und Zeit, uns damit auseinanderzusetzen, die Dinge neu anzugehen. Wir müssen uns wieder Fragen stellen: Was will ich eigentlich? Was brauche ich in meinem Leben? Was möchte ich in Zukunft machen?

Leider aber ist das Verständnis dafür, dass man sich für derartige Gedanken Zeit oder besser gesagt eine Auszeit nimmt, oft nicht vorhanden.
Und das ist einmal mehr ein kulturell gewachsener Wert: Viele definieren sich darüber, wie viel und was sie arbeiten. Aber auch in der Hinsicht ist vieles im Umbruch. Und wenngleich das für den Einzelnen mitunter schwierig ist, sehe ich es optimistisch. Wenn wir uns nämlich Fragen über die Zukunft stellen wollen, brauchen wir Zeit dafür – ansonsten wird es anstrengend. Und meiner Meinung nach sind wir nun an einem Punkt, an dem wir uns mit diesen Fragen auseinandersetzen müssen. Einerseits um nicht vollends den Drive zu verlieren. Andererseits, weil es eine Chance ist, die wir nutzen müssen. Und zwar als Individuum als auch als Gesamtgesellschaft. Wir müssen jetzt vieles miteinander reflektieren und gemeinsam in die Zukunft blicken, um diese neu gestalten zu können.

Vielen Dank für das Gespräch, Bettina!

 

(c) Christine Baireder

 

Zur Person: Bettina Ludwig

Warum tun wir, was wir tun? Diese Frage stellt sich die Kultur- und Sozialanthropologin Bettina Ludwig und hinterfragt damit gesellschaftliche Strukturen. Ihre Erkenntnisse zieht sie aus 300.000 Jahren Menschheitsgeschichte und ihren Forschungen mit einer der letzten lebenden Jäger-Sammlergruppe in der Kalahari Wüste Namibias. Ihr Leitsatz: Wir brauchen ein neues Menschenbild. Anstatt einen „Zurück zum Ursprung“-Gedanken zu verfolgen, weiß sie, wie wichtig es ist zu erkennen, welches Potential in unserer Zukunft liegt. Bettina Ludwig hat selbst erlebt, wie ihre Forschungen ihr Weltbild auf den Kopf gestellt haben und gibt dieses Wissens auch als Keynote-Speakerin weiter. Für ihre Forschungen wurde sie 2019 mit dem Rupert Riedl Preis ausgezeichnet. Als Unternehmerin und Visionärin rief sie während des Lockdowns im März 2020 ein Projekt ins Leben, das zum Ziel hat unternehmerisch denkende Menschen zusammen zu bringen, die gemeinsam Zukunft gestalten wollen: das Zukunfts.Symposium Eferding. Im April 2022 erscheint ihr erstes Buch bei Kremayr&Scheriau. Es trägt den Titel „Unserer Zukunft auf der Spur: Wer wir waren, wer wir sind, wer wir sein können.“ Bettina Ludwig stellt darin das Welt- und Menschenbild des Lesers auf den Kopf und nimmt sie mit zu Jäger-Sammler-Gesellschaften, in denen Zeit, Besitz und Hierarchien anders funktionieren, als wir es gewohnt sind. Sie erklärt, warum Spurenlesen die Urform der Wissenschaft ist, und zeigt schlüssig auf, dass Menschen vor allem kulturell bedingt handeln, und nicht, „weil sie eben so sind“.

Link: www.bettinaludwig.at & www.zukunftssymposium.at

 

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Im Gespräch mit...,Orientierung

Bettina Ludwig: Wie wäre es mit Ergebnisoffenheit?

Ein Gespräch mit der Kultur- und Sozialanthropologin Bettina Ludwig über eine Welt, die sich immer schneller verändert, warum wir ergebnisoffene Zukunftspläne brauchen, weshalb wir wieder miteinander reden und diskutieren sollten und wieso wir uns Zeit nehmen müssen, darüber nachzudenken, was wir wirklich wollen.