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Auszeit

Unser Leben verändert sich immer schneller. Als Kultur- und Sozialanthropologin beschäftigst Du Dich mit dem Wesen des Menschen. Warum tun sich die meisten schwer, mit derart schnellen Veränderungen umzugehen?
Schnelllebige Veränderung ist nichts Natürliches, sondern etwas Kulturelles bzw. kulturell Gewachsenes. Allerdings fällt es uns schwer, schnelle Veränderungen kognitiv zu verarbeiten. Dafür sind wir nicht gemacht – weder das Individuum noch die Gesellschaft bzw. unsere Kultur. Evolutionär betrachtet, also im Leben unserer steinzeitlichen Vorfahren, gab es auf lange Sicht keine derartig schnellen Veränderungen. Sie sind uns also nicht inhärent. Das könnte ein Grund sein.
Man muss aber auch wissen, dass wir uns kulturell immer an die Dinge anpassen, die uns passieren. Also etwa auch Veränderungen, die uns infrastrukturell vorgegeben werden. In der Folge beeinflusst sich das gegenseitig – wie ein Feedback-Loop. Und so passen sich auch unsere Werte und Normen wieder an. Im Hinblick auf Letzteres hinken wird derzeit aber hinterher.

Wenn sich unsere Welt einerseits immer schneller verändert und wir andererseits in gewissen Bereichen hinterherhinken, besteht da nicht die Gefahr, dass wir in Zukunft vom Leben ständig überholt werden? Sprich: Wenn wir unsere Pläne über den Haufen werfen müssen, noch bevor sie umgesetzt werden konnten, macht es da überhaupt noch Sinn, Pläne für die Zukunft zu schmieden?
Dass Zukunft bei uns einen derart hohen Stellenwert hat bzw. dass wir überhaupt in Zukunft denken, ist Teil unserer Gesellschaft und ebenfalls kulturell gewachsen. In Jäger-Sammler-Gesellschaften, auf die ich mich spezialisiert habe, gibt es Zukunft in der Form gar nicht. Sie können es sprachlich bzw. grammatikalisch nicht ausdrücken. Zukunft hat für Jäger und Sammler keine kulturelle Wertigkeit, denn man lebt im Hier und Jetzt. Das ist unter anderem möglich, weil diese Gesellschaften viel kleiner und simpler sind. Letzteres ist nicht wertend gemeint, sondern bedeutet, dass sie etwa im Vergleich zu der Gesellschaft, in der wir beide aufgewachsen sind, wesentlich weniger komplex aufgebaut sind. Je komplexer eine Gesellschaft, umso komplexer sind die Themen, die behandelt werden müssen.

Kalahari-Wüste in Namibia (c) Louis Liebenberg

 

Wir wissen nicht, was morgen ist. Das ist an sich nichts Neues, schließlich konnten wir nie vorhersagen, was die Zukunft tatsächlich bringt. Die Corona-Pandemie hat uns in der Hinsicht allerdings regelrecht vorgeführt und ist in gewisser Weise wie eine perfekte Spielwiese für diese sich derart schnell verändernde Welt. Woran können sich die Menschen dennoch orientieren?
Wie wäre es mit Ergebnisoffenheit?

Du meinst, dass wir uns daran orientieren sollen, dass alles möglich ist?
Ja. Wobei das auch nichts Neues ist. Wie Du gerade selbst gesagt hast, konnten wir die Zukunft noch nie punktgenau vorhersagen, aber vor Corona hatte man zumindest das Gefühl, dass man Dinge, Veränderungen usw. abschätzen konnte. Jetzt kann man gar nichts mehr abschätzen. Umso wichtiger ist es, dass wir lernen, damit umzugehen. Und hier würde uns Ergebnisoffenheit sehr helfen. Gesellschaftsstrukturell ist das übrigens etwas ganz anderes.

Warum? Kann eine Gesellschaft nicht ergebnisoffen agieren?
Sie kann schon, aber sie braucht dennoch gewisse Strukturen. Anders gesagt: Wir müssten darüber reden, welche Strukturen es braucht, damit wir das als Gesellschaft schaffen. Da liegt ein großes Stück Arbeit vor uns. Ich bin allerdings hoffnungsvoll, dass wir es schaffen, die Dinge neu zu kalibrieren. Welche Strukturen das sind, kann ich nicht sagen. Dafür müssten wir einen Diskurs führen.

Ein gutes Stichwort. Oft finden wir nämlich im Gespräch neue Wege und Orientierung. Ich habe jedoch das Gefühl, dass die Menschen immer seltener miteinander reden, dass man einander nicht mehr zuhört, dass man andere Meinungen nicht mehr zulässt. Haben wir die Diskursfähigkeit verloren?
Ich glaube eher, dass wir sie über eine lange Zeit gar nicht gebraucht haben. Das hängt stark mit Machtsystemen zusammen. In Hierarchien, die es übrigens in dieser Form in Jäger-Sammler-Gesellschaften nicht gibt, werden Dinge von „oben“ vorgegeben. Und die Menschen haben das ja auch mitgetragen, weshalb es über viele Jahre und Jahrzehnte funktioniert hat. Jetzt aber werden diese Strukturen zunehmend hinterfragt. Immer mehr Menschen – von Fridays for Future über people of color und andere Minderheiten bis hin zu all jenen, die gegen die Pandemie-Politik auf die Straße gehen – wollen mitreden, wollen gehört werden.

Auf der Straße gibt es allerdings weniger Diskurs…
Stimmt. Umso wichtiger ist es, dass wir wieder anfangen, miteinander zu reden. Dabei ist es in meinen Augen entscheidend, dass wir uns darüber im Klaren sind, dass unterschiedlichste Menschen mit unterschiedlichsten Meinungen miteinander reden.

Es braucht also eine Kombination aus Diskurs und Diversität – eine Kultur des diversen Diskurses sozusagen. Das könnte dem Einzelnen wohl auch Orientierung geben, da er aus unterschiedlichsten Meinungen und Anschauungen seinen eigenen Weg finden könnte.
Klingt gut. Abgesehen davon hat Orientierung für mich auch damit zu tun, womit wir uns identifizieren. Wobei einmal mehr wichtig ist zu akzeptieren, dass jeder Mensch unterschiedlich ist und sich somit mit anderen Werten identifierzt. Dafür braucht es eine Offenheit, die zwar auf den ersten Blick beängstigend ist, weil es nicht die eine universelle Identität gibt, an der man sich orientieren kann. Auf den zweiten Blick eröffnet einem das aber Welten. Sobald man erkennt, dass es wesentlich spannender ist, eine breite Perspektive ohne universelle Annahmen und Werte zu haben bzw. sich dieser anzunähern, kann man viel freier agieren.

 

Je weniger ich darüber nachdenke, was – scheinbar – vorgegeben ist, umso freier bin ich.
Ja. Die Arbeit mit Jäger-Sammler-Gesellschaften hat mir in der Hinsicht sehr geholfen. So haben diese beispielsweise keine Idee von Wettkampf. Es gibt weder Gewinner noch Verlierer. Auch kennen sie kein Besitztum. Wir hingegen identifizieren uns oft über Besitz, Geld, unsere berufliche Position usw. Derartige Werte sind in unseren Gesellschaften kulturell gewachsen. Und das wiederum bedeutet, dass ich mich nicht damit identifizieren muss, weil es uns nicht inhärent ist.
Was ist damit sagen möchte: Viele Dinge, die uns in unserer Welt als gegeben betrachtet werden, sind in Wahrheit kulturell gewachsen. Die Welt, wie wir sie kennen, ist nicht in Stein gemeißelt. Wir wurden, wenn man so möchte, zufällig hineinsozialisiert. Dieses Wissen hilft, die eigene Welt zu relativieren.

Ein schöner Gedanke. Der Einzelne kann seine Welt somit jederzeit neu ausrichten – ohne dabei durch scheinbar fixe Systeme eingeschränkt zu werden.
Ja, wobei sich auch Systeme und Gesellschaften ständig verändern, unter anderem weil sich deren kulturelle Werte und Regelungen verändern. Die Corona-Pandemie hat unser Leben von heute auf morgen ausgebremst und uns unter anderem aufgezeigt, dass wir zu schnell unterwegs waren. Zuvor war alles möglich und zwar oft ohne große Anstrengungen. Nun gilt es, sich darüber klar zu werden, welche Werte „nur“ kulturell gewachsen sind. Folglich liegt es auch in unserer Hand, Neues entstehen zu lassen. Dafür aber muss sich erst einmal das Mindset ändern …

… Zukunft neu denken, sozusagen.
Genau. In den letzten zwei Jahren ist irrsinnig viel ins Wanken gekommen. Jetzt brauchen wir Raum und Zeit, uns damit auseinanderzusetzen, die Dinge neu anzugehen. Wir müssen uns wieder Fragen stellen: Was will ich eigentlich? Was brauche ich in meinem Leben? Was möchte ich in Zukunft machen?

Leider aber ist das Verständnis dafür, dass man sich für derartige Gedanken Zeit oder besser gesagt eine Auszeit nimmt, oft nicht vorhanden.
Und das ist einmal mehr ein kulturell gewachsener Wert: Viele definieren sich darüber, wie viel und was sie arbeiten. Aber auch in der Hinsicht ist vieles im Umbruch. Und wenngleich das für den Einzelnen mitunter schwierig ist, sehe ich es optimistisch. Wenn wir uns nämlich Fragen über die Zukunft stellen wollen, brauchen wir Zeit dafür – ansonsten wird es anstrengend. Und meiner Meinung nach sind wir nun an einem Punkt, an dem wir uns mit diesen Fragen auseinandersetzen müssen. Einerseits um nicht vollends den Drive zu verlieren. Andererseits, weil es eine Chance ist, die wir nutzen müssen. Und zwar als Individuum als auch als Gesamtgesellschaft. Wir müssen jetzt vieles miteinander reflektieren und gemeinsam in die Zukunft blicken, um diese neu gestalten zu können.

Vielen Dank für das Gespräch, Bettina!

 

(c) Christine Baireder

 

Zur Person: Bettina Ludwig

Warum tun wir, was wir tun? Diese Frage stellt sich die Kultur- und Sozialanthropologin Bettina Ludwig und hinterfragt damit gesellschaftliche Strukturen. Ihre Erkenntnisse zieht sie aus 300.000 Jahren Menschheitsgeschichte und ihren Forschungen mit einer der letzten lebenden Jäger-Sammlergruppe in der Kalahari Wüste Namibias. Ihr Leitsatz: Wir brauchen ein neues Menschenbild. Anstatt einen „Zurück zum Ursprung“-Gedanken zu verfolgen, weiß sie, wie wichtig es ist zu erkennen, welches Potential in unserer Zukunft liegt. Bettina Ludwig hat selbst erlebt, wie ihre Forschungen ihr Weltbild auf den Kopf gestellt haben und gibt dieses Wissens auch als Keynote-Speakerin weiter. Für ihre Forschungen wurde sie 2019 mit dem Rupert Riedl Preis ausgezeichnet. Als Unternehmerin und Visionärin rief sie während des Lockdowns im März 2020 ein Projekt ins Leben, das zum Ziel hat unternehmerisch denkende Menschen zusammen zu bringen, die gemeinsam Zukunft gestalten wollen: das Zukunfts.Symposium Eferding. Im April 2022 erscheint ihr erstes Buch bei Kremayr&Scheriau. Es trägt den Titel „Unserer Zukunft auf der Spur: Wer wir waren, wer wir sind, wer wir sein können.“ Bettina Ludwig stellt darin das Welt- und Menschenbild des Lesers auf den Kopf und nimmt sie mit zu Jäger-Sammler-Gesellschaften, in denen Zeit, Besitz und Hierarchien anders funktionieren, als wir es gewohnt sind. Sie erklärt, warum Spurenlesen die Urform der Wissenschaft ist, und zeigt schlüssig auf, dass Menschen vor allem kulturell bedingt handeln, und nicht, „weil sie eben so sind“.

Link: www.bettinaludwig.at & www.zukunftssymposium.at

 

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Im Gespräch mit...,Orientierung

Bettina Ludwig: Wie wäre es mit Ergebnisoffenheit?

Ein Gespräch mit der Kultur- und Sozialanthropologin Bettina Ludwig über eine Welt, die sich immer schneller verändert, warum wir ergebnisoffene Zukunftspläne brauchen, weshalb wir wieder miteinander reden und diskutieren sollten und wieso wir uns Zeit nehmen müssen, darüber nachzudenken, was wir wirklich wollen.